Kapitel 11

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Ziellos ging ich durch die Straßen, Sherlocks Worte im Kopf.
Er mochte zwar ein Genie sein, aber was menschliches anging, war Sherlock ein hoffnungsloser Fall.

Er hatte gesehen, aber nicht erkannt.
Das Offensichtliche hatte er nicht erkannt.
Vielleicht war das auch besser so...

Ich lief weitere zehn Minuten, bis ich an einer kleinen Kneipe ankam.
Ich trat hinein und setzte mich an den Tresen.
Dann bestellte ich mir einen Whiskey und stürzte ihn in einem Schluck herunter.

"Schlechten Tag gehabt, was?"
Ich drehte mich zu der Person, der die Stimme gehörte, um.
"Das müssen sie gerade sagen, Lestrade. So wie es aus sieht, sind sie auch nicht mehr ganz nüchtern", bemerkte ich mit einem Blick auf das halb leere Glas vor ihm.

"Greg, bitte. Und wie du weißt, John, sind die Mitglieder der Familie Holmes nicht ganz einfach", antwortete er und zuckte mit den Schultern.
"Wer war es bei dir?", fragte ich ihn und bestellte mir den nächsten Whiskey.
Greg seufzte schwer.
"Mycroft. Und bei dir Sherlock, nehme ich an?"
Ich nickte.

"Sherlock treibt mich noch in den Wahnsinn! Ich dachte er hätte herausgefunden, dass... also dass er etwas herausgefunden hätte und im nächsten Moment unterstellt er mir, dass ich ihm nicht vertraue und so weiter."
Greg sah mich forschend an.

"Du dachtest er hätte herausgefunden, dass du ihn liebst, oder?"
"Warum weiß das eigentlich jeder?!", wollte ich wissen und setzte eine frustrierte Miene auf.
"John, du trägst deine Gefühle wie einen Mantel, für alle sichtbar mit dir herum. Nichts ist einfacher als zu sehen, wie du dich gerade fühlst."

Und doch war Sherlock felsenfest davon überzeugt, dass Molly die Liebe meines Lebens war...

"Jetzt guck doch nicht so deprimiert, John. Warum sagst du Sherlock nicht einfach, was du für ihn empfindest? Auch wenn er deine Gefühle nicht erwidern sollte, was ich persönlich allerdings nicht glaube, wird er dir schon nicht den Kopf abreißen."

"Aber was ist, wenn er dann nichts mehr mit mir zu tun haben möchte? Du weißt doch was Sherlock von solchen Gefühlen hält, Greg", teilte ich ihm meine Bedenken mit.

"Nein, das würde er nicht tun, John", antwortete Greg kopfschüttelnd. "Weißt du, John, wenn du mal ein Wochenende lang bei deiner Schwester warst, dann ließ Sherlock uns im Yard keine Ruhe und ging uns so lange auf die Nerven, bis wir ihm einem Fall zuteilten.
Ich habe auch schon mit Mrs Hudson darüber gesprochen, damit sie Sherlock vielleicht zu Hause behält, aber das machte es auch nicht besser.
Mrs Hudson sagte, Sherlock würde dann nichts essen, nicht schlafen und dauerhaft traurige Lieder auf seiner Geige spielen.
Du siehst also John: ohne dich hält Sherlock es nicht dauerhaft aus. Er würde eure Freundschaft nicht einfach in den Sand setzen. Und außerdem", fügte Greg noch hinzu," glaube ich, dass Sherlocks Gefühle für dich deinen gar nicht so unähnlich sind."

Er zwinkerte mir zu und trank den Rest seines Drinks aus.
Ich sagte nichts und verarbeitete, was Greg mir gerade erzählt hatte.
Machte es Sherlock wirklich so viel aus, wenn ich nicht zu Hause war?

Ein Gespräche und Drinks später verließ ich mit Greg die Kneipe.
"Sag mal, Greg, warum wolltest du dich heute Abend eigentlich betrinken?", fragte ich ihn hochkonzentriert. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Zunge an meinem Gaumen festkleben.

"Ich hab Mycroft nach einem Date gefragt", nuschelte er.
Greg sah auf einmal schwer deprimiert aus, aber ich konnte nicht anders, als loszuprusten. Später schob ich das auf den Alkohol.

"Du hast Mycroft nach einem Date gefragt?"
"Ja, aber er wollte nicht. Er sagte irgendwas von wegen, er müsse arbeiten oder so. Ich hab auch nichts anderes erwartet, ehrlich gesagt."

"Ich mache dir einen Vorschlag Greg", lallte ich. "Wenn du mir versprichst, Mycroft dazu zu bringen sich auf ein Date einzulassen, dann werde ich Sherlock sobald ich zu Hause bin sagen, was ich für ihn empfinde."
"Abgemacht", meinte Greg sofort.
Wir verabschiedeten uns voneinander und ich machte mich auf den Weg zurück in die Bakerstreet.

Nach fast einer halben Stunde war ich endlich angekommen, nachdem ich nur quälend langsam vorangekommen war. In nächster Zeit würde ich definitiv die Finger vom Alkohol lassen.

Als ich jetzt hier vor der Haustür stand, setzte plötzlich die Nervosität ein. Wie würde Sherlock reagieren?

Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als ich plötzlich eine bekannte, kalte Stimme hinter mir hörte.

"Ziemlich unvorsichtig, sich allein um so eine Zeit in London rumzutreiben, Johnnyboy."

Es fühlt sich an, als würde die Zeit für einen Moment stehenbleiben.
Ich spürte alles viel deutlicher als sonst. Das Gefühl der kratzigen Baumwolle auf meiner Haut.
Der Geruch des Regens in der Luft.
Die hupenden Autos im Hintergrund.
Und vor mir die goldenen Lettern unserer Hausnummer.

"Ach wirklich?", fragte ich.
"Bis jetzt ist mir doch nichts passiert."
Ein Lachen.
"Ganz richtig. Bis jetzt."

Ich spürte die Spritze in meinem Hals, bevor ich sie sah. Der Kolben wurde langsam heruntergedrückt und sofort fühlte ich, wie meine Glieder schwer wurden.
Ich ließ den Schlüssel fallen.
Dann wurde alles schwarz.

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