Kapitel 19

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Am nächsten Morgen wachte ich noch vor Sherlock auf und sah ihm beim Schlafen zu.
Seine Gesichtszüge waren völlig ruhig und entspannt.
Vorsichtig strich ich ihm eine Haarlocke aus der Stirn. Wie konnte ein einzelner Mann mein gesamtes Leben nur so auf den Kopf stellen?

Durch meine Berührung geweckt, öffnete Sherlock langsam die Augen. Er blinzelte mehrmals, um seinen Blick zu klären, dann sah er mich an.

Sofort wurde ich von seinen wasserhellen Augen gefangen genommen und ein sanftes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht.

„Guten Morgen, Sonnenschein", sagte ich und konnte nicht verhindern, dass mein anfängliches Lächeln in ein breites Grinsen ausartete, denn Sherlock stöhnte gequält auf und drehte mir dann seinen Rücken zu.

„Lass mich in Ruhe", nuschelte er in das Kissen.

„Ich dachte, schlafen wäre langweilig", lachte ich.
Eine Entscheidung, die ich kurz darauf bereute, da augenblicklich mein gesamter Körper in Flammen zu stehen schien.
Ein völlig demolierter Oberkörper und Lachen vertrugen sich nun einmal nicht sehr gut.

Vor Schmerzen sog ich scharf die Luft ein, was Sherlock dazu veranlasste, sich alarmiert wieder umzudrehen.

„John, du als Arzt solltest doch am besten wissen, dass deine Wunden immer noch überaus empfindlich sind", meinte Sherlock in seinem typisch überheblichen Ton.
„Du solltest wirklich vorsichtiger sein", fügte er noch hinzu und küsste mich kurz.

Verdattert sah ich Sherlock an.
„Wer bist du und was hast du mit Sherlock gemacht?", fragte ich und musste ein weiteres Lachen unterdrücken. „Du bist doch sonst nicht so fürsorglich."
„Ohne meinen Blogger wäre ich verloren. Ich muss auf dich aufpassen."

„Das hast du ja super hinbekommen, Sherlock", ertönte auf einmal eine Stimme von der Tür.
„Hallo, Mary", sagte Sherlock, ohne sich umzudrehen.

Ich allerdings hob meinen Kopf, um selbst zu sehen, wer ins Zimmer gekommen war. Es war wirklich Mary.
Verwirrt setzte ich mich auf und verzog, wie so oft in letzter Zeit, gequält das Gesicht.

„Warum bist du denn hier, Mary?", wollte ich wissen.
„Ich bin immer noch als dein Notfallkontakt eingetragen und sie haben mich gestern angerufen, als du ins Krankenhaus kamst. Ich war schon gestern hier und Sherlock hat mir erzählt, was passiert ist", antwortete sie und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett.

Währenddessen war Sherlock aufgestanden und lief jetzt im Zimmer auf und ab.
Mary atmete tief durch und redete dann weiter.

„John, es tut mir so leid. Wenn ich vor ein paar Tagen etwas hartnäckiger gewesen wäre, dann hätte dich dieser Psychopath gar nicht erst entführen können."

„Was redest du denn da, Mary? Niemand hätte das verhindern können."
„Doch, John, erinnerst du dich an den Abend, als ich in der Bakerstreet war, weil ich eine SMS bekommen hatte? Ich erzählte dir, dass du in Gefahr wärest. In der SMS stand, dass dir etwas Schlimmes zustoßen würde. Aber als ich dann bei euch war, wurde ich auf einmal so eifersüchtig, also bin ich wieder gegangen."

Mary unterbrach kurz und wischte sich über die Augen.

„John, ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut."
Sie drehte sich zu Sherlock um, der immer noch durch das kleine Zimmer tigerte.

„Und es tut mir auch leid, dass ich dich geschlagen habe. Ich war einfach so wütend, weißt du? In meinen Augen warst du einfach derjenige, der mir John ausgespannt hatte und ich weiß auch nicht, was in mich gefahren war, es war einfach-" Durch ihr Schluchzen wurde Marys Redeschwall unterbrochen.

Sherlock blieb an Marys Stuhl stehen. Seine Handflächen hatte er aneinandergelegt und unter seinem Kinn platziert. Sein Blick war kalt und berechnend. Das verhieß definitiv nichts Gutes.

„Mary, wie du hoffentlich weißt, bin ich ein Meister der Deduktion. Und nach der Zeit, die ich mit John zusammen verbracht habe, lernte ich, dass auch normale Menschen dazu in der Lage sind, wenigstens etwas zu deduzieren.
Warum also, frage ich mich, konntest du nicht sehen, dass John und ich offensichtlich kein Paar waren?
Deine Bemerkung, dass John mein „Lover" wäre, war also völlig überflüssig. Als John damals in der Bakerstreet auftauchte, konnte ich nicht erkennen, was eure Trennung verursacht hat.
Doch wenn ich jetzt darauf zurückblicke, ist es geradezu lächerlich einfach.
Es lag nicht an Uneinigkeiten, die Hochzeitsplanungen betreffend, oder Geldsorgen.
Also muss es an irgendwelchen Gefühlen gelegen haben. Nach deiner fälschlichen Annahme zu der Beziehung zwischen John und mir zuurteilen, waren es Johns Gefühle gegenüber mir.
Als du davon erfuhrst, hattest du keine andere Wahl, als die Beziehung sofort zu beenden Du warst zu sehr verletzt, um John noch weiter um dich zu haben."

Ein ungläubiges Lachen verließ Sherlocks Kehle.

„Sind Gefühle nicht sonderbar? Nichts als ein chemischer Defekt, der die Menschen schwach und verletzlich macht", zischte er.

Für einige Sekunden war es totenstill.
Niemand wagte, etwas zu sagen.
Auch Marys Schluchzen war verebbt, sie starrte Sherlock nur mit großen Augen an.
Auch ich sah perplex zu ihm herüber.
Was zum Teufel war in ihn gefahren?
Genau diese Frage versuchte ich Sherlock per Augenkontakt zu vermitteln.

Was ich sah, machte mich stutzig.
In Sherlock schien ein riesiges Gefühlschaos zu herrschen. Angst, Wut, Verzweiflung und Schmerz spiegelten sich in Sherlocks Augen.

„Ich glaube, es wäre besser, wenn du draußen wartest, Sherlock. Wir werden später reden, ja?", fragte ich mit belegter Stimme.
Das ließ Sherlock sich nicht zweimal sagen und rauschte aus dem Raum.

Nach weiteren Momenten des Schweigens räusperte ich mich und ergriff das Wort.

„Mary, ich habe keine Ahnung, was mit Sherlock los war. Ich meine, ich bin es gewohnt, dass er nicht die Freundlichkeit in Person ist, aber normalerweise weiß selbst er, wann es genug ist. Das gerade war wirklich... seltsam."
„Ist schon in Ordnung", entgegnete Mary. „Irgendwie hat er ja schon Recht."

Nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr erhob sich Mary aus dem Stuhl und verabschiedete sich. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal zu mir um.

„John, ich möchte noch, dass du weißt, dass ich nicht nachtragend bin. Es tut zwar immer noch weh, aber insgeheim bin ich froh, endlich die Wahrheit zu kennen. Ich wünsche dir und Sherlock nur das Beste. Und falls du einmal meine Hilfe brauchen solltest, dann zögere nicht, danach zu fragen."

„Danke", antwortete ich und lächelte ihr zu.

Es dauerte nicht lange, bis Sherlock zurückkam. Sofort bemerkte ich, dass seine Augen leicht gerötet waren, aber ich sprach ihn nicht darauf an.
Das wäre vermutlich keine sonderlich gute Idee gewesen. Wir würden später noch genügend Zeit haben, um miteinander zu sprechen.

Wortlos suchte Sherlock die wenigen Klamotten zusammen, die er mir ins Krankenhaus gebracht hatte, zusammen.
Anschließend holten wir die mir verordneten Medikamente und fuhren mit dem Taxi nach Hause.

Die ganze Fahrt über schwiegen wir uns an. Nicht einmal Blickkontakt stellten wir her.
Endlich in der Bakerstreet angekommen, hoffte ich auf etwas Ruhe und eine Tasse Tee.

Aber dieser Wunsch sollte wohl nicht in Erfüllung gehen.

Schon an der schwarzen Eingangstür hörte ich Sherlock genervt aufstöhnen.
„Zeit, sich zu freuen, John. Mein Bruder ist hier."

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