Kapitel 21

3K 270 15
                                    

In den nächsten Tagen wartete ich lange auf eine passende Möglichkeit, um mit Sherlock zu sprechen.
Aber dieser wusste genau, wie er mir am besten aus dem Weg gehen konnte. Entweder verschwand er plötzlich für einige Stunden, ohne jemandem zu sagen, wo er hinging, oder er schloss sich den ganzen Tag über in seinem Zimmer ein.

Schon mehrmals hatte ich minutenlang an Sherlocks Zimmertür geklopft, um ihn wenigstens zum Essen zu bewegen, aber mittlerweile hatte ich selbst das aufgegeben.
Auch was Jonathan betraf, machten wir keinerlei Fortschritte.
Mycroft hatte seine Spione überall in der Welt damit beauftragt, nach ihm Ausschau zu halten, doch niemand konnte irgendwelche Erfolge vorweisen.
Deswegen lautete Mycrofts geniale Lösung: Abwarten. Und zwar darauf, dass Jonathan sich von selbst meldete.
Natürlich würde er die Suche nicht einstellen und zusätzlich noch weitere Sucheinheiten anfordern, aber unsere Hauptaufgabe sollte das Warten werden. Darauf, dass Jonathan wieder auf der Bildfläche erschien oder wieder jemanden entführte. Eine fantastische Lösung.

All das und die Tatsache, dass Sherlock mir so sehr aus dem Weg ging, zehrten an meinen Nerven.
Ich war am Ende.
Sowohl psychisch als auch physisch. Meine Verletzungen verheilten zwar gut, aber nach ein bisschen körperlicher Anstrengung schmerzte trotzdem jeder Teil meines Körpers.
Und dann, eines Morgens, nachdem Sherlock wieder einmal beschlossen hatte, den Tag in seinem Schlafzimmer zu verbringen, hatte ich meine Grenze erreicht.
Ich fühlte mich so allein, hilflos und einfach nur leer.

Ich ging zu Sherlocks Zimmer und ließ mich vor der Tür auf den Boden sinken.
„Sherlock, ich weiß, dass du da drin bist und ich weiß auch, dass du nicht mir reden möchtest, aber ich hoffe, du hörst mir wenigstens zu."
Ich atmete einmal tief durch und rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht.
Es kam nicht oft vor, dass ich offen über meine Gefühle sprach und das Ganze dann auch noch mit Sherlock zu tun, machte es noch schwieriger.
„Sherlock, ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich falsch gemacht habe. Und egal, was es war, es tut mir leid. Es war niemals meine Absicht, dich zu verletzen. Aber ich glaube nicht, dass du weißt, was du mir mit deiner Ignoranz antust, Sherlock. Im Krankenhaus, da haben wir uns geküsst und du hast zugegeben, dass du nicht nur Freundschaft für mich empfindest. War das die Wahrheit, Sherlock, oder hast du nur eines deiner komplett durchgeknallten Experimente durchgeführt?"
Ein trauriges Lachen entwich aus meiner Kehle.
„Das ist es, oder? Es war nur ein Experiment für dich. Und jetzt hast du nicht einmal den Anstand, es mir ins Gesicht zu sagen. Verdammt, Sherlock, ich weiß nicht, was..."
Ich schluckte schwer und sprach dann leiser weiter.
„Ich weiß gar nichts mehr, Sherlock. Ich weiß nicht, was mit dir los ist und was du fühlst. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich fühle. Da ist diese Angst davor, was Jonathan als Nächstes tun wird. Die Angst davor, dass er dir etwa antut.
Aber ich glaube, ich bin auch wütend. Wütend auf dich, weil du nicht mit mir redest. Wütend auf mich selbst, weil ich nicht mehr weiterweiß.
Es gibt nur eine Sache, die ich mit Sicherheit sagen kann, Sherlock.
Du fehlst mir.
Und hoffe, dass du mir nicht mehr die kalte Schulter zeigst. Ich will meinen besten Freund zurück, mit dem ich nachts durch die dunkelsten Straßen Londons laufen kann, um einen Mörder zu schnappen.
Dem ich sagen kann, wenn seine Deduktionen wieder brillant waren oder, wenn er wieder seinen Mantelkragen aufstellt, um mysteriös auszusehen.
Ich will das alles zurück, Sherlock.
Ich will dich zurück.
Und ich bete darum, dass du das auch möchtest."

Ich wischte mir schnell eine kleine Träne aus meinem Augenwinkel weg und stand ruckartig auf.

„Ich gehe kurz raus, Sherlock. Vielleicht sehen wir uns später", informierte ich ihn und verließ die Wohnung. Hoffentlich würde Sherlock seine Tür öffnen...
Und hoffentlich würde alles wieder normal werden.

Sherlocks PoV

Während John sprach, setzte ich mich mit dem Rücken an die Tür. Ich wusste, dass er auf der anderen Seite saß.
Ich stellte mir vor, ihm so wenigstens etwas nah zu sein.
John schüttete mir sein Herz aus und das meine krampfte sich bei seinen Worten zusammen. John gab sich tatsächlich die Schuld für mein abweisendes Verhalten.
„Oh, John", wisperte ich kaum hörbar. „Nichts davon ist deine Schuld. Gar nichts."

Ich hörte, wie John die Wohnung verließ und öffnete meine Tür. Sie war nicht abgeschlossen gewesen. John hätte jederzeit hereinkommen können.
Aber in den letzten Tagen hatte ich ihn anscheinend so sehr abgewiesen, dass er sich schon gar keine Hoffnungen mehr machte.
Ich machte einen Schritt aus meinem Schlafzimmer heraus, als ich mit meinem Fuß gegen etwas Hartes stieß.
Ich bückte mich und hob das harte Etwas auf.
Es handelte sich um ein schlichtes, schwarzes Notizbuch. „John" stand in eleganten Lettern darauf.
Neugierig schlug ich das Buch auf und sofort wurden mir zwei Dinge bewusst.
Bei diesem Buch handelte es sich um Johns Tagebuch. Und er hatte es hier für mich liegengelassen.
Langsam zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück und setzte mich auf mein Bett.
Johns Tagebuch ließ ich zugeschlagen vor mir liegen.
Die Botschaft an mich war klar, aber ich zögerte.
Es war ein ziemlich großes Eindringen in Johns Privatsphäre. Doch andererseits wollte John aus irgendeinem Grund, dass ich wusste, was er aufgeschrieben hatte.

Also schlug ich bedächtig erneut die erste Seite auf und begann zu lesen...

HumanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt