26.- Gebrochene Flügel

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"Was? Was ist da gestern Abend vorgefallen? Was hat Dean gesagt? Hast du dich in ihn verliebt? Erzähl mir alles." rief Shay aufgeregt und die zwei Damen ein paar Tische weiter schauten uns entsetzt an. Kein Wunder bei der Lautstärke und den Gesten, mit denen Shay ihren Gefühlen Ausdruck verleihte. Ich schüttelte jedoch resigniert den Kopf. "Nein, nein. Es ist nicht Mister... Mister O'Gorman." brachte ich hervor. Shay legte eine Hand auf meine. "Oh, das tut mir leid. Ich habe nur gedacht, weil du ja gestern bei ihm warst."
"Nein, ist schon okay. Du konntest es ja wirklich nicht wissen."
"Wer ist es denn? Sag es mir!"

Ich seufzte. Irgendwie fühlte es sich nun nicht mehr so richtig an, Shay von Christian und mir zu erzählen. Sollte ich es für mich behalten? Als Geheimnis bewahren? Aber wie lange würde ich das durchhalten?

"Es ist Christian. Der Arzt." flüsterte ich schließlich.
"Ich hab es mir ja fast schon gedacht." sagte Shay. "Ich hab es mir echt gedacht. Und? Ist da was zwischen euch?"
"Nein, noch nicht. Aber gestern Abend, da war es so... Er hat sich so fürsorglich um mich gekümmert."
"Hm. Also wie gesagt, ich bin mir sicher, dass er auf dich steht. Aber denkst du denn, dass es richtig ist? Ich meine, Du warst doch eigentlich mit diesem O'Gorman zusammen." Seinen Namen sprach sie extra leise aus. Doch das hätte sie sich sparen können.
"Was soll das denn heißen?" fragte ich verwirrt.

"Naja, du bist immerhin verlobt und jetzt willst du dir so schnell einen Anderen holen? Findest du das in Ordnung? Also, denkst du nicht, dass es ein bisschen voreilig ist? Denk doch mal an O'Gorman. Wie der sich fühlt."
"Gehts dir noch gut?!" Wut kochte in mir auf. "Shay, du bist meine beste Freundin, aber deswegen hast du nicht das Recht, sowas zu sagen. Ich bin mit niemandem zusammen. Mit niemandem! Hast du das verstanden?" schrie ich und stand auf, weswegen mein Stuhl klirrend auf den Boden fiel.
"Ich hatte einen Unfall, verdammt noch mal! Ich kann nichts dafür, dass ich mich nicht daran erinnere, mit diesem Typen jemals zusammen gewesen zu sein! Ich kann nichts dafür." Die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg meine Wangen hinunter und ich wischte sie schnell weg. "Wieso beschuldigen mich alle deswegen? Ich liebe ihn einfach nicht mehr und ich möchte auch nicht mehr hören, dass ich ihm eine Chance geben sollte. Warum sollte ich das denn auch? Habe ich mich ihm gegenüber verpflichtet? Nein."
"Xenia, bitte."

"Nein, Shay. Es reicht. Ich möchte das so nicht und ich suche mir selbst aus, wen ich liebe. Ich suche mir selbst aus, wo ich lebe und was ich mache. Ich suche selbst aus, wer ich bin und wer ich sein möchte. Kein anderer! Und wenn ihr das nicht akzeptiert, dann gehört ihr nicht mehr zu meinem Leben. Wenn alle nur noch die Xenia vor dem Unfall zurück haben wollen, dann habe ich hier nichts mehr zu suchen."
"Bitte, setz dich wieder. Das war doch gar nicht so gemeint." sagte Shay, doch ich hörte nicht.
"Ich dachte, du würdest mich verstehen." meinte ich leise, nahm meine Jacke vom Stuhl und verschwand schnellen Schrittes aus der Kantine.

Was bildet sie sich ein? Denkst sie ernsthaft, sie könnte mich so überzeugen? Wie kann ich mich in O'Gorman verlieben, wenn mich jeder dazu zwingt? So viele Gedanken schossen in den wenigen Minuten durch meinen Kopf und erst der kühle Juniwind, der mich draußen vor dem Krankenhaus umhüllte, half mir ein wenig, mich wieder zurecht zu finden. Außer Atem lehnte ich mich an eine Birke und starrte in den zart graublauen Himmel. Über mir flog ein kleiner, schwarzer Vogel aus den blattlosen Ästen nach oben. Ich würde ihm gerne folgen. Irgendwo anders hin fliegen und das alles hinter mir lassen. Sollte ich es tun? Sollte ich gehen? Was hielt mich hier in Wellington? Der Schmerz. Einzig Schmerz und Selbstzweifel. Weitere Tränen rannen aus meinen Augen und ich atmete tief ein. Ich hatte zu viele Fragen, auf die mir niemand Antwort geben konnte.

Es mussten einige Minuten, vielleicht Stunden vergangen sein, als Shay aus dem Krankhaus kam und sich nach mir umsah. Als sie mich an dem Baum lehnen sah, lief sie schnell auf mich zu. "Xenia, oh Gott."
"Was?" fragte ich barsch. "Geh wieder rein und lass mich in Ruhe. Verlass mich wieder. Das kannst du doch eh am besten." Shay ging einen Schritt zurück. "Was?" fragte sie entsetzt.
"Ja, hast schon richtig gehört. Geh wieder zurück. Das ist doch das einzige, was ihr könnt. Mich allein lassen. Das macht jeder."
"Xenia, was redest du da?"
"Du hast mich schon verstanden." sagte ich und drehte mich um, um weiter zu laufen, doch Shay folgte mir und legte eine Hand auf meine Schulter.
"Ich lasse dich nicht alleine. Niemals."
Verletzt starrte ich auf meine Stiefel, anstatt ihr ins Gesicht zu sehen.
"Ich bleibe immer bei dir."
"Wirklich?"

Lost & Found (DeanO'Gorman ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt