Kapitel 6

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Schweissgebadet wache ich auf. Mein Herz klopft. Ich versuche, mich an meinen Traum zu erinnern, weiss aber nichts mehr. Doch... Tai. Ich schüttele den Kopf. Das ist doch richtiggehend absurd! Der ganze Traum fühlt sich so komisch an. Als hätte ich ihn geträumt und irgendwie doch nicht. Sowieso... die ganze Nacht fühlt sich an, als wäre sie nicht da gewesen. Ich fühle mich so erschöpft wie noch nie. Naja, wie noch nie, seit ich mich erinnern kann.
Aber es kann nur ein Traum gewesen sein, da mein Fenster noch ganz ist. Und sowieso... das würde ja an Magie grenzen... unmöglich.
Ich schaue mich um. In meinem Zimmer stehen drei grosse Koffer, die alle bis auf den Rand gefüllt zu sein scheinen. Koffer? Wieso?
Langsam kehren die Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück. Sie haben es ernst gemeint! Natürlich, faucht mein Unterbewusstsein, bist du wirklich so naiv?
Ich strecke mich und stehe auf. Dann gehe ich zu meinem Kleiderschrank. Er ist fast leer. Nur noch wenige Sachen sind darin. Ich beschliesse, eine hautenge, schwarze Jeans anzuziehen. Und ein enges, ebenfalls schwarzes, schulterfreies Oberteil. Dazu eine schwarze Lederjacke, die so gut wie neu ist. Schwarz, schwarz, schwarz. Ich mag diese Farbe, aber vor allem ziehe ich diese Kleider an, weil sich meine Eltern immer so aufregen, wenn ich schwarz trage. Keine Ahnung, weshalb. Auf jeden Fall will ich ihnen zeigen, dass... keine Ahnung was. Einfach halt irgendwas.
Früher, ganz am Anfang, als ich einmal schwarz angezogen habe, sind Katharina und Dad richtig ausgerastet. Haben mir Sachen an den Kopf geworfen, von denen ich gar nichts wusste. Sie sind richtig ausgeflippt. Ich habe die beiden noch nie zuvor so wütend gesehen und seither auch nicht mehr. Aber die Sache erklärt haben sie nie.
Ich gehe ins Badezimmer. Auch meine Augen werden schwarz geschminkt. Eigentlich würde mir das verdammt gut stehen, aber Katharina hat mir schwarz bisher grösstenteils untersagt. Sie hat mir allerdings nach einem ziemlich heftigen Streit erlaubt, ein schwarzes Kleidungsstück zu tragen.
Und es hat auch keinen Sinn gehabt, mich schick zu machen, da ich fast nie anderen Leuten begegnet bin, schon gar nicht Jungen in meinem Alter. Abgesehen von Tai, dem seltsamen Jungen von gestern. Irgendwie habe ich das Gefühl, ihn zu kennen. Aber das ist unmöglich. Ich meine, wie gross ist die Wahrscheinlichkeit? Null Prozent? Aber ich werde trotzdem dieses Gefühl nicht los, ihn schon einmal gesehen zu haben. Dann fällt mir der Traum wieder. Es ist wirklich absurd. Seit wann träume ich so absurde Sachen?
Ich stecke meine Haare so kunstvoll wie möglich hoch und betrachte zufrieden mein Werk. Schliesslich bin ich fest entschlossen, es zu schaffen, dass die anderen mich akzeptieren. Vielleicht geht das besser, wenn ich mich ein wenig zurechtmache. Doch wahrscheinlich ist das nur eine lahme Ausrede. Ich muss mich schlicht und einfach ablenken. Um nicht ständig an diese beschissenen Träume und dieses beschissene Internat zu denken. Klar, ich will dort einen guten Eindruck machen, aber das heisst nicht, dass ich aufs Internat will. Definitiv nicht. Aber was könnte ich schon dagegen unternehmen? Da kann ich doch wenigstens versuchen, das beste aus der Situation zu machen. Oder?
Um meine Frisur zu befestigen stecke ich mir noch ein paar Haarnadeln ins Haar. So, fertig.
Dann stolziere ich hinunter in die Küche.
„Wann gehen wir?", frage ich kühl. Die sollen bloss nicht denken, mir mache das nichts aus!(Deshalb die Kühle) Oder dass ich sie auf Knien anflehen werde, mich nicht aufs Internat zu schicken(Deshalb die Frage). Können sie gleich vergessen. Ich lasse mich nicht abschieben ohne wenigstens zu versuchen, ihnen ein klein wenig ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich weiss, das klingt fies und vielleicht sogar arrogant, aber was sie gemacht haben ist ja auch sicherlich nicht in Ordnung.
Katharina, die gerade Zeitung liest, blickt auf und ihr Blick verdüstert sich, als sie mein Outfit sieht, doch sie sagt nichts. Ein Weltwunder!, denke ich spöttisch, doch ich sage nichts. Ich habe das Gefühl, dass ein Streit Katharina gerade noch gut kommen würde, da sie sich dann nicht so schlecht fühlen müsste. Naja, das ist vielleicht ein bisschen zu weit hergeholt.
In diesem Moment kommt Dad in die Küche. Er sieht zwar nicht mehr aus wie eine Tomate, aber man sieht, dass er nicht viel geschlafen hat. Tja, selber Schuld!
„Der Wagen kommt in einer Stunde. Wenn du bis dahin nicht fertig bist, werden wir dich einfach so in den Wagen tun, wie du gerade bist. Und keine Widerreden", sagt er, als ich etwas sagen will.
Na gut, wie er will. Ich schnappe mir eins der Brötchen von der Küchenablage und stapfe dann wütend wieder hoch in mein Zimmer. Dort packe ich all meine Sachen wieder aus. Also alles, was in den drei Koffern ist. Ich sortiere die Kleidung aus, packe hauptsächlich schwarze Kleidungsstücke ein. Um Katharina und Dad zu bestrafen. Ich weiss, dass es völlig unsinnig ist. Aber irgendwo ist in mir doch noch die Hoffnung, dass sie sich umentscheiden. Und ich habe das Gefühl, dass ich sie vielleicht mit einem schlechten Gewissen rumkriegen kann. Doch ein anderer Teil in mir weiss, dass alles zwecklos ist. Sie haben sich entschieden und werden ihre Entscheidung auch nicht so schnell ändern. Aber weshalb?
Auch die Toilettenartikel müssen gewechselt werden. Vor allem das Schminkzeug. Von dem muss ich alles mitnehmen. Wer auch immer mein Koffer gepackt hat, hat darauf extrem wenig wert gelegt.
Als letztes kommen noch all meine Zeichenutensilien und ein paar Bücher in den letzten Koffer.
In eine Handtasche packe ich meinen Skizzenblock, einen Bleistift, mein Handy und Kopfhörer ein.
Dann gehe ich mit meinem Gepäck nach unten. Ich muss mehrmals gehen, da ich nicht gerade wenig habe. Dann, als alles unten ist, gehe ich noch mal hoch. Ich krieche unter mein Bett, überprüfe die Dielen, bis ich die finde, die locke ist. Ich hebe sie an und nehme das kleine, schön gearbeitete Goldkettchen hervor. Das einzige, was mir von meinem Leben vor dem Krankenhaus geblieben ist. Niemand weiss davon, nur ich. Deshalb habe ich es versteckt. Obwohl ich keine Ahnung habe, wie es den Deppen von Ärzten nicht auffallen konnte.
Bevor ich mein Zimmer verlasse, fällt mein Blick auf den weiss-silbernen Laptop. Den werde ich auch mitnehmen. Dann verlasse ich endgültig das Zimmer. Wie lange werde ich es wohl nicht mehr wiedersehen?

Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt