Kapitel 33

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Als er weg ist lasse ich den Tränen freien Lauf. Wie konnte mir das nur passieren? Warum mir?
In diesem Moment öffnet sich die Türe und ich setze mich ruckartig auf. In der Tür steht Ti und er ist nicht allein. Neben ihm steht Samantha.
«Oh, soll ich später wiederkommen?», fragt Ti, als er mein Gesicht sieht.
Ich schüttele den Kopf. «Wie du schon gesagt hast. Es ist auch dein Zimmer», sage ich und setze ein Lächeln auf, was mir sehr schwerfällt.
«Darf Samantha auch rein?».
Ich nicke. Mir doch egal, sie hat mich sowieso schon heulen sehen. Und von ihrem Rumgezicke... ich halte nichts davon aber es ist mir auch egal. Mehr oder weniger.
Ich lasse mich wieder nach hinten fallen und schliesse die Augen. Nach einer Weile setzt sich jemand zu mir aufs Bett. Ich schlage die Augen auf.
«Alles in Ordnung?», fragt Samantha.
«Was ist?», frage ich.
«Ich wollte nur nett sein»
«Du hasst mich doch!»
«Nein, tue ich nicht. Ich wollte nur nicht, dass Ti schon wieder verletzt wird»
«Weshalb sollte ich ihn verletzen?»
«Eine Frage, auf die ich dir im Moment keine Antwort geben kann. Aber ich will, dass du weisst, dass ich dich nicht hasse. Können wir nicht einfach versuchen Freunde zu sein?» Das kommt jetzt ziemlich überraschend.
«Aber das dürfen wir nicht». Ich setze mich wieder auf. «Wir sind verfeindet».
Samantha lacht auf. «Nur weil unsere Familien das sind, heisst das noch lange nicht, dass wir es auch sein müssen. Ich hasse den Krieg, den sie führen. Ich bin schon lange ausgestiegen. Mir ist es auch egal wenn ich verstossen werde. Bin ich auch schon halbwegs. Aber ich habe trotzdem noch ziemlich viel Einfluss hier. Ich will, dass sie endlich Frieden schliessen».
«Und trotzdem bist du mit Ti befreundet?» frage ich erstaunt.
«Er ist mein Bruder», sagt sie.
«Was?», frage ich völlig perplex.
Sie lächelt mich zaghaft an. «Deshalb will ich ihn beschützen. Weil er es selber nicht kann».
«Der sollte doch in der Lage sein, sich selber zu beschützen», sage ich.
«Ja körperlich schon. Aber emotional ist er, wenn ich das so sagen darf, total am Arsch. Er führt einen Krieg an, er hat das Mädchen verloren, das er über alles liebt und er gibt sich die Schuld am Tod seiner Eltern. Wer würde daran nicht kaputtgehen?»
In diesen paar Sekunden habe ich mehr über ihn erfahren, als ich von ihm in den paar Wochen erfahren habe. «Das ist ja ganz schön viel», sage ich mitfühlend, «Wo ist er eigentlich?».
«Er ist im Bad. Ich glaube, er wollte, dass wir uns aussprechen», sagt sie, dann ruft sie laut, «Kannst rauskommen. Ich weiss was dein Ziel war».
In diesem Moment kommt Ti grinsend raus.
«Verschon mich mit deinem selbstgefälligen Grinsen», murrt Samantha, woraufhin Ti's Grinsen nur noch breiter wird.
«Nein, aber jetzt mal im ernst. Was ist los?», fragt Ti und setzt sich zu uns.
Ich schüttele nur den Kopf. Ich will nicht darüber reden. Nicht jetzt, nicht hier.
«Du warst heute in ihrem Hauptquartier, oder?», fragt Ti.
Ich nicke. «Ich habe eure Lilith gesehen. Sie hat gesprochen», sage ich.
Ti und Samantha schauen sich alarmiert an.
«Was ist?», frage ich.
«Du darfst bestimmt nicht darüber sprechen. Und wenn das wirklich so ist, werden wir belauscht», sagt Ti leise.
Dann steht er auf und läuft unauffällig herum. Nach einer Weile kommt er wieder zu uns.
«Bingo», flüstert er, «Magst du sprechen?». Die Frage ist an mich gewandt.
Ich nicke.
«Dann komm mit». Ti nimmt meine und Samanthas Hand, schliesst die Augen und wir verschwinden.
Der Raum in dem wir nun sind ist wieder die Höhle, in der wir schon mal waren.
«Die werden doch sicher bemerken, dass ich weg bin», sage ich.
Ti grinst. «Eben nicht. Solche Lauscher kann man ziemlich gut täuschen. Mit ein wenig... Magie».
Samantha seufzt. «Er kann die Luft verändern, so dass es klingt, als würden wir noch dort sitzen und über etwas Unverfängliches reden».
«Du kooperierst mit dem Feind», sagt Ti verschwörerisch.
«Jake... Er hat gesagt, wir dürfen nicht mehr miteinander reden», sage ich, und die Erwähnung von Jake's Namen schmerzt.
«Er hatte schon immer einen Hang zur Dramatik», sagt Ti achselzuckend, «Wenn diese Schweine dir schon am Anfang gesagt hätten, wer du bist, dann hättest du nie auch nur angefangen mit mir zu sprechen».
«Meinst du, sie wussten, wer ich bin? Schon vorher?», frage ich, nachdem ich ihnen grob erzählt habe, was heute vorgefallen ist.
«Natürlich. Sie wussten schon von Anfang an, dass du seine Zwillingsschwester warst. Selbst deine Eltern wissen es wahrscheinlich. Ich sag dir, diese Familie überlässt nichts dem Zufall».
«Das glaube ich nicht. Jake hat nicht gewusst, wer ich bin», sage ich in einem Versuch, mich selbst zu überzeugen.
«Bist du dir sicher?», fragt Ti.
Nein. Bin ich nicht. Ich kenne ihn kaum. Mir wird plötzlich bewusst, wie einfach es für sie gewesen wäre, mich zu täuschen.
«Wieso sollte ich dir denn eher glauben? Du bist mein Feind, ich darf dir nicht vertrauen», sage ich.
«Hm. Mal scharf überlegen. Woher sollte ich wissen, wer du bist? Woher sollte ich sonst deinen Namen kennen, Nuria?», fragt er.
Ich zucke zurück. «Hör auf». Ich habe meinen Namen mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht, welche Schwester ich bin. Woher weiss er das?
«Mit was denn? Ich weiss, du hast ihnen vertraut. Das war schon früher dein Fehler. Du vertraust zu schnell. Mir hast du auch vertraut, ohne auch nur das geringste über mich zu wissen», sagt Ti.
«Hör auf. Ich will nichts mehr hören».
«Du hast dich umgebracht, weil ich es dir gesagt habe. Weil ich dir die Wahrheit gesagt habe», sagt Ti.
Ich ziehe den Silberdolch. «Ich habe gesagt, du sollst aufhören», sage ich, «Ich will nichts mehr hören».
«Deine sogenannten Freunde sind Schweine», sagt Ti.
Ich stürze mich auf ihn und stosse den Dolch in seinen Arm.
«Bitte, hör mir zu», sagt Ti und umfasst meine Hand, die den Dolch hält. Er unternimmt nichts, um ihn wieder herauszuziehen. Die Wunde beginnt zu rauchen.
«Bitte», sagt Ti.
Ich sacke in mich zusammen und lockere den Griff um den Dolch.
Ti nimmt meine Hand sanft weg und legt seine um den Griff, woraufhin die Handoberfläche beginnt, Brandblasen zu bilden. Mit einem Ruckt zieht Ti den Dolch aus dem Arm und gibt ihn mir zurück. Die Wunde im Arm sieht ziemlich hässlich aus.
«Samantha, komm mal bitte», sagt Ti, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Auf der Stelle ist Samantha bei ihm und streicht mit der Hand über die Wunde. Ihre Hand beginnt grün zu leuchten und fasziniert schaue ich zu, wie sich die Wunde verschliesst.
«Silber ist ziemlich fies, meinst du nicht?», fragt Ti.
Ich beginnen zu weinen. «Ich wollte das nicht», sage ich schluchzend.
«Sch. Schon gut. Alles ist gut», sagt Ti und nimmt mich in seine Arme bis ich mich wieder beruhigt habe.
«Warum hast du das gesagt?», frage ich.
«Ich musste herausfinden, was du weisst. Aber keine Angst, Jake war nicht eingeweiht. Bei Aline bin ich mir nicht so sicher, aber ich glaube auch nicht. Und deine Freunde... ich weiss nicht. Aber ziemlich viele andere hier wussten es schon», sagt Ti.
Samantha hockt sich zu uns. «Adam wusste es. Er überlässt nichts dem Zufall. Wir wussten es auch schon vorher, aber zuerst mussten wir herausfinden, auf welcher Seite du stehst».
«Auf welcher stehe ich denn?», frage ich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.
«Gute Frage. Ich wage zu behaupten, dass du das selbst nicht weisst», meint Ti.
Ich nicke.
«Dann lassen wir dieses Thema, okay?»
Ich nicke erneut.
«Gut. Kannst du uns was über Lilith erzählen? Es ist wichtig. Jedes kleinste Detail», bittet Ti mich.
«Ist es schlimm, wenn ich euch das erzähle? Ich meine, verrate ich dann nicht meine eigene... Familie?», frage ich.
«Eine Familie, die dich so behandelt?», fragt Ti bitter. Dann sagt er etwas netter: «Es ist dein Entscheid, ob du es uns sagst. Aber wir brauchen sie, verstehst du? Wir brauchen sie, um diesen verdammten Krieg zu beenden».
«Würde es nicht alles schlimmer machen, wenn sie freikäme?»
«Nein. Lilith verabscheut den Krieg. Sie hat nicht damit angefangen. Ihr ging es nur um diese Welt», sagt Ti.
«Aber weshalb ist ihr diese Welt so wichtig?», frage ich.
«Da gibt es viele Gründe, und die meisten darf ich dir nicht verraten. Aber einer ist, weil die Welt das Zuhause ihrer Tochter ist. Und ihre Tochter ist die, die sie wiederfinden will. Ihre Tochter ist der Schlüssel zu allem».
«Aber Ella und so sagen, dass ihre Tochter tot ist», sage ich.
«Das glauben sie auch. Aber wir wissen, dass sie noch lebt».
«Woher?», frage ich.
«Weil sie der Grund ist, dass diese Welt noch existiert».
Ich schaue ihn an und mir wird bewusst, dass ich ihm glaube. Also beginne ich von der Begegnung mit Lilith zu erzählen.

«Und sie hat gesagt, dass die Zeit bald gekommen sei?», fragt Samantha, als ich meinen Bericht beendet habe.
Ich nicke.
«Das heisst, dass ihre Tochter bald zurückkommen wird», erklärt Ti mir, «Danke dass du mir das erzählt hast. Aber auf welcher Seite stehst du?»
«Ich will auf gar keiner Seite stehen. Es ist schrecklich. Ich muss dich hassen, weil mir das Gesetz verbietet, mit dir befreundet zu sein. Ich muss... ich darf nicht... Jake... Es ist alles so schrecklich», sage ich stockend.
Ti nickt. «Du musst auf keiner Seite sein. Du darfst mit beiden befreundet sein, wenn du im Internat bleibst. Der Krieg herrscht draussen, genauso wie das Gesetz. Solange du dich auf dem Internatsgelände aufhältst kann dich niemand zu etwas zwingen».
«Aber ihr dürft ja auch nicht mit mir befreundet sein. Vor allem du nicht, Ti», sage ich.
Ti lacht. «Wir haben keine solche Gesetze. Wir waren es nicht, die den Krieg wollten. Wir verteidigen uns, wir wollen Lilith befreien, der Rest ist uns egal. Diese bescheuerten Gesetze haben nur die Wächter. Wir dürfen befreundet sein mit wem wir wollen».
«Aber Jake hat gesagt, dass ich bei ihnen wohnen müsse», sage ich.
«Erstens können sie dich zu nichts zwingen. Und zweitens, wenn du wirklich nicht bei ihnen sein willst, kannst du es jemandem von uns sagen. Ich habe genug Macht, um dich da rauszuholen. Und ich habe allen gesagt, dass dir nichts angetan werden darf».
«Warum tut ihr das für mich?», frage ich.
«Weil du nicht blind vor Hass bist wie die anderen. Ich, wir vertrauen dir genug um zu sagen, dass du keine Gefahr darstellst», erklärt Samantha.
«Und wie kann ich sicher sein, dass ich euch vertrauen kann?», frage ich leise.
«Wenn wir dich hätten töten wollen hätten wir es längst getan. Und ausserdem stehst du unter Lilith's Schutz. Du bist unantastbar, wenn du so willst», sagt Ti.
«Warum stehe ich unter Lilith's Schutz? Und... Moment mal. Aber Jake sagt, sie, wir sind unsterblich», sage ich.
«Nein, seid ihr nicht. Sie glauben das nur, aber wir Dämonen, wie sie uns nennen, haben schon lange herausgefunden, was der Tod bewirkt».
«Und Lilith?», frage ich nach. Aus irgendeinem Grund weiss ich, dass es sinnlos wäre, nachzufragen, was es mit dem Tod auf sich hat.
«Ein weiteres Geheimnis, tut mir leid», sagt Samantha.
Ich nicke nur. Ich bin plötzlich so müde. Ich kann nicht mehr. Und ich weiss, dass alles noch schlimmer wird.
«Du solltest schlafen», sagt Samantha.
Ich schüttele den Kopf. Nein! Dann kommen die Albträume wieder. Ich habe Angst. Ich weiss, dass sie heute Nacht wiederkommen werden.
Samantha legt mir sanft die Hand auf die Augen.
«Schlaf», flüstert sie, «Schlaf. Du wirst schlafen, so tief, dass du keinerlei Träume dich verfolgen. Und wenn du morgen früh aufwachst, wirst du erholt sein, wie schon lange nicht mehr».
Das letzte was ich höre ist: «Was soll nur geschehen?». Und Ti's verzweifelter Blick, als er diese Frage stellt, ruht auf mir.

Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt