Kapitel 9

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Der Esssaal ist ein riesiger Raum, der mindestens 500 Leute fassen könnte. Allerdings sind dort nur 7 lange Tische aufgestellt. Vor ihnen ist noch einer, der ist aber rund.
An den Tischen sind die meisten Plätze schon besetzt. Ella lässt ihren Blick über die Menge wandern, bis sie schliesslich, mit zufriedenem Gesicht, auf den dritten Tisch von links zusteuert.
Dort setzt sie sich auf einen freien Platz und sagt mir, ich solle mich neben sie setzen.
In dieser Ecke des Tisches sind schon fünf Andere. 3 Jungs und 1 Mädchen.
„Hey Ella, wen haste denn da mitgebracht?" fragt der eine grinsend.
Einer der anderen schubst ihn an.
„Das ist wahrscheinlich die Neue. Weisst du nicht mehr? Sulli hat es neulich erwähnt. Aber das ist schon länger her. Ich glaube, das war heute Morgen. Oder vielleicht doch Mittag?".
Ella und ihre Freunde prusten los. Dann stellt Ella mich vor. Die Namen vergesse ich schon gleich nach dem ich sie gehört habe wieder. Mann ist das peinlich!
Ella beginnt irgendetwas zu erzählen, über ein Buch, das sie gerade liest.
Dann höre ich ein Klingeln. Schlagartig wird es still in dem Saal. Man könnte eine Stecknadel fallen hören.
Alle schauen nach vorne, zu dem runden Tisch. Also tue ich es den anderen gleich.
Dort sitzt – wie heisst sie noch gleich? Ah ja- dort sitzt Frau Direktorin Sullivan. In der Hand haltet sie ein kleines Glöckchen. Das muss wohl das Klingeln verursacht haben.
„Guten Abend, meine lieben Schüler", beginnt sie, als ein lautes Krachen sie unterbricht. Alle schauen nach hinten. Auch ich drehe hastig den Kopf. Im Eingang stehen 3 Gestalten. Als sie näherkommen, erkenne ich, dass es drei Mädchen sind. Die in der Mitte ist die, die mich vorhin so doof angemacht hat. Sie lässt den Blick kalt über mich schweifen und blickt dann demonstrativ in die andere Richtung.
Die anderen zwei sind zwar auch nichtgerade hässlich, stehen aber vollkommen im Schatten der Zicke.
„Habt ihr eine Entschuldigung für euer Zuspätkommen?". Frau Sullivans Stimme hallt wütend durch den Raum.
„Ich musste noch was mit Ti besprechen. Sie wissen schon, ich muss ihn ja über den Unterrichtsstoff informieren, den er verpasst", erwidert das Mädchen in der Mitte.
Aufgeregtes Tuscheln geht durch den Saal.
„Das ist Samantha. Sie, die anderen Mädchen und Ti sind die Anführer ihrer Clique", flüstert Ella mir zu. Als ich sie fragend anschaue, schüttelt sie nur den Kopf und deutet nach vorne, wo Frau Sullivan wieder das Wort ergreift.
„Wie bitte? Mit wem", fragt sie eisig.
Das Mädchen – Samantha – verdreht die Augen.
„Theodor, Miss", sagt sie dann.
„Und was, bitte schön hattest du im zu sagen? Dass er zu spät in die Schule kommt, weiss er ja bereits. Sonst muss er nichts wissen. Ausser, du willst mir sagen, dass der Unterricht heute schon begonnen hat. Dann habe ich mich wohl mit dem Tag geirrt. Ach wie dumm von mir". Frau Sullivan schlägt sich gespielt genervt auf den Kopf. Ein nervöses Kichern geht durch die Menge.
Samantha wird rot.
„Ich... Er wollte wissen, wie die Zimmeraufteilung ist. Ob wir wieder im selben Stockwerk sind. Was ja anscheinend nicht der Fall ist. Ti ist sehr genervt, dass er sich sein Zimmer jetzt teilen muss. Zum ersten Mal, seit wir hier sind. Und dann auch gleich noch mit einer Fremden", sagt Samantha und ihre Stimme wird immer kälter. Erst schaut sie noch die Direktorin an, doch die letzten Worte wendet sie mit eisigem Blick an mich.
Alle Köpfe drehen sich zu mir um.
„Setz dich, Samantha. Und bitte, zügle dein Temperament. Das nächste Mal fliegst du. Und zwar in hohem Bogen", sagt Frau Sullivan und scheint sich zu beruhigen. Sie scheint dieses «Und zwar in hohem Bogen» zu mögen. Weil bei mir hat sie ja ziemlich dasselbe schon gesagt.
„Sie tut mir ja fast Leid", flüstert Ella sarkastisch neben mir „, Samanthas Vater gehört die Schule. Das ganze Areal hier ist im Besitz ihrer Familie. Mehr oder weniger zumindest. Wenn es nach Frau Sullivan gehen würde, wäre Samantha schon längst von der Schule geschmissen worden, aber das erlaubt ihr Vater natürlich nicht".
Aha, deshalb läuft Samantha so herum, als würde die Schule ihr gehören. Was ja auch in gewissem Sinne so ist.
„Also. Was ich vorhin sagen wollte, bevor wir gestört wurden", Sullivans Blick bleibt an Samantha hängen, „ ist, dass, wie unsere Samantha netterweise erwähnt hat, wir eine neue Mitschülerin haben. Wie es bei uns üblich ist, wird sie mit einem Jungen im Zimmer schlafen. Ti hat also eine neue Mitbewohnerin haben und sollte ihn das stören, so kann er sich persönlich bei mir melden, sobald er aus seinen Ferien zurück ist. Wobei er aber selbst dann keine guten Chancen hätte, da man Einwände nur am Anfang des Schuljahres PERSÖNLICH bei mir melden kann. Aber nun wieder zu unserer neuen Mitschülerin. Ihr Name ist Amelie. Sie kommt aus Südengland und wird ab heute bei uns aufs Internat gehen. Wenn ihr mehr wissen wollt, fragt ihr Amelie am besten selbst. Wie ihr wisst, ist das kein neues Schuljahr, sondern es wird einfach so weitergemacht, wie vor den Ferien. So und jetzt könnt ihr mit dem Essen beginnen", beendet Frau Sullivan ihre Rede feierlich.
Mit diesen Worten gehen Klappen in der Mitte der Tische auf und Schüsseln, gefüllt mit allen möglichen Speisen, kommen zum Vorschein.
„Wo ist eigentlich Jake?", fragt Ella, während sie ihren Teller mit Reis und einer, mir unbekannten, Sauce füllt.
„Ist krank. Aber er sagt, er kann morgen zum Unterricht kommen...", erwidert ein Junge mit rotem Haar und nussbraunen Augen. Ich glaube, sein Name beginnt mit H. Havy? Nein. Ah ja! Jetzt weiss ich es wieder: Harvey. Er hat beim Vorstellen gesagt, ich könne ihn ruhig Ey nennen.
Irgendwie bin ich stolz auf mich. Na ja... zwei Namen sind nicht sehr viel aber immerhin schon ein Anfang.
„Was hat er denn? Ist er schon im Internat?", fragt Ella besorgt und greift zu einer Schüssel mit Salat.
„Keine Ahnung. Bauchweh und Kopfschmerzen, hat er gesagt. Ja, er ist schon hier. Miss Bluewin sorgt sich um ihn", sagt Ey und wird bei diesen Worten rot.
Ella unterdrückt ein Lachen und beginnt zu husten.
„Wie geht es denn Charlie so?", fragt einer der Jungen, von dem ich glaube, dass er Mike heisst, grinsend.
Ey verschluckt sich und Ella erklärt mir verschwörerisch: „ Charlotte Bluewin, unsere Krankenschwester, ist sein heissgeliebter Schwarm. Sie ist nur ein wenig älter als Ey, gibt ihm aber jedes Mal einen Korb, wenn er sich ihr anzunähern versucht. Ich glaube, er hat sie sogar schon geküsst". Die letzten Worte sagt sie in neckendem Ton und Ey schaut sie böse an.
„Hab ich nicht, sie hat mich vorher geschlagen. Seit dem geht sie mir aus dem Weg. Und sie HEISST NICHT CHARLIE!!!", sagt er wütend zu glaube-er-heisst-Mike.
„Wie nennst du sie dann? Lottie? Ich meine, wenn ihr mal so richtig in Fahrt kommt...", fragt glaube-er-heisst-Mike grinsend.
„ Sei doch still Mike", fährt Ella ihn an und Mike zuckt zusammen. Ha, denke ich, weshalb ich gesagt? Er heisst Mike. Dann wendet sie sich zu Ey um, „Heyy, das wird schon noch!", sagt sie aufmunternd, «Unsereins hat doch genug Zeit». Doch Ey schüttelt nur den Kopf und schaut in eine andere Richtung.
„Sie hat ihm ihre Liebe gestanden, als sie noch hier zur Schule ging. Er war schon damals Halsüberkopf in sie verliebt. Doch seit sie als Krankenschwester hierher zurückgekommen ist, ignoriert sie ihn eiskalt", erklärt Ella mitfühlend.
„Sie war schon dazumal eine eingebildete Kuh", sagt das andere Mädchen, das auch noch bei uns sitzt. Olivia, soweit ich mich erinnern kann. Dann fügt sie mit einem schnellen Blick zu Ey noch hinzu: „Nicht böse gemeint gegen dich! Ich beziehe diese Beleidung nur auf diese Schla... auf diese Zicke".
Ey nickt und beginnt, sich Essen auf den Teller zu schaufeln.
Ich greife mir eine Brötchen, als Ella mich fragt: „ Wie alt bist du eigentlich?". Ich erstarre, mitten in der Bewegung.
„Ich glaube, 16", sage ich zögernd. Und schon bereue ich, dass ich dieses «ich glaube» hinzugefügt habe.
Der Junge mir gegenüber kichert. Bisher hat er sich noch nicht gemeldet. Sein schwarzes Haar fällt ihm ständig in die Augen. Soweit ich weiss, heisst er Noah.
„Was heisst, ich glaube?", fragt Ella skeptisch.
„Na, dass ich es nicht weiss", erwidere ich genervt. Ich hasse es, wenn Leute mir Fragen stellen. Ja ich bin anders, aber habe ich mir dieses Leben so ausgesucht? Nein. Also, soweit ich weiss. Nicht mal das kann ich sagen, da ich ja nicht weiss, wie ich früher war. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand mein Leben freiwillig wählen würde.
„Also, bitte, das Alter ist doch nicht schwierig zu merken. Eine zweistellige Zahl", sagt Mike und schaut mich an, als wäre ich total bekloppt. Bin ich ja vielleicht auch. Was ich leider aber auch nicht weiss.
„Hast du ein Problem damit?", frage ich wütend. Mike zuckt zurück.
„Nein, es ist nur so... das eigene Alter kennt doch jeder...", stottert er.
„Ach ja? Nur weil du deins weisst, heisst das noch lange nicht, dass alle so sind wie du. Zum Glück nicht, sonst würden alle so dumme Fragen stellen, und mich anschauen als wäre ich... was weiss ich? Ein Wunder? Eine Katastrophe? Oder einfach irgendeine Irre, die gedacht hat, sie lege sich mal ins Wasser und tut so als wäre sie bewusstlos?", fauche ich, stehe auf, und renne aus dem Saal.
Ella ruft mir hinterher, doch ich blicke nicht zurück. Ich habe Erfahrung damit, dass Leute mir Fragen stellen, doch gewöhnen werde ich mich wohl nie dran.
Ja, ich bin aus diesem Scheiss-Meer gefischt worden. Bin ich deshalb etwas Besonderes? Oder bin ich es nicht würdig, normal behandelt zu werden? Oder ist es was anderes?
Nein, nein, nein! Ich will nicht so sein! Ich will auch ein Leben haben! Ich will auch Erinnerungen haben! Ich habe mir dieses verdammte Leben nicht ausgesucht! Ich will keine dieser blöden Fragen mehr hören!
Wutentbrannt gehe ich immer weiter und weiter. Weiss nicht, wohin ich gehe.
Irgendwann bemerke ich, dass ich im Wald bin. Keine Ahnung, wie ich hierhin gekommen bin und keine Ahnung wie ich zurückkommen kann.
Er sieht ganz anders aus, als der bei uns. Sogar der Geruch ist anders. Doch das fällt mir nur nebenbei auf. Die Wut vertreibt alles. Bis heute hatte ich meine Gefühle immer im Griff, doch jetzt kommt die ganze Wut der letzten drei Jahre hoch. Es fühlt sich an, als würde ich innerlich zerreissen. Ich verlangsame meine Schritte und gehe aber trotzdem noch weiter.
Ich weiss, Mike kann eigentlich nichts dafür, er hat einfach das Fass zum Überlaufen gebracht. Fast kriege ich ein schlechtes Gewissen, doch ein Rascheln auf meiner rechten Seite lenkt mich ab. Dann springt etwas riesiges mich an und wirft mich zu Boden. Ich pralle mit dem Hinterkopf auf.
Als ich wieder klar sehen kann, betrachte ich das Wesen, das jetzt auf mir liegt und mich zu Boden drückt. Es ist blau. Und irgendwie auch rot. Ich kann es nicht beschreiben, so eine seltsame Farbe habe ich noch nie gesehen. Ein bisschen sieht es so aus, wie ich mir immer Drachen vorgestellt habe. Drachen? Ich träume wohl!
Seine Augen leuchten rot und das Vieh will gerade seine Zähne in meinen Hals schlagen, als die Augen aufhören zu leuchten. Die Gestalt auf mir beginnt sich zu verändern und wird zu einem Wesen mit menschlichem Körper. Die Haut bleibt zwar nach wie vor blau und rot (Ich weiss nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Das Monster ist nicht gefleckt oder so. es hat keinen Übergang zwischen den zwei Farben. Es sieht eher aus, wie eine Farbe, die ich noch nie zuvor gesehen habe) und die Augen sind noch rot, doch die Gestalt ist nicht mehr ganz so furchteinflössend. Es ist ein Junge. Von der Gestalt, nicht aber von der Hautfarbe.
Irgendwie kommt er mir vertraut vor.
„Amalia", keucht er. Seine Stimme ist rau und sanft zugleich. „Du bist zurück".
Amalia? Wieso Amalia?
Dann küsst er mich. Presst seine Lippen auf meine, als wäre ich die Luft, die er zum Atmen benötigt. Zuerst will ich ihn wegstossen. Ich kenne ihn doch nicht. Doch irgendetwas sagt mir, dass das Gegenteil der Fall ist. Ich erwidere seinen Kuss. Es fühlt sich gut an, richtig. Und doch weiss ich irgendwie, dass es falsch ist. Das ganze fühlt sich an, als wäre es schon einmal passiert. Wie eine... Erinnerung.
Plötzlich stösst der Junge mich fort. Steht auf und zieht mich grob auf die Füsse. Er sieht so aus, als würde er mich gleich schlagen, lässt dann aber seine Hand sinken.
Er rauft sich seine rotgoldenen Haare. „Tut mir Leid. Amalia. Ich kann das nicht. Ich darf das nicht. Verzeih mir.". Den Namen spricht er ganz langsam, ganz sachte aus. Dann ist er verschwunden.
Ich spüre ein Reissen in mir, als würde ich gleich in zwei Hälften zerspringen. Schmerz durchströmt mich, aber es fühlt sich auf eine Art und Weise gut an.
Ich bleibe eine Weile stehen und gehe dann in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Als ich noch einmal zurückblicke, sehe ich, dass die Stelle, auf der ich gelegen habe, schwarz verbrannt ist.

Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt