Kapitel 25

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„Wie geht es dir?", frage ich Ella und öffne die Fenster soweit es geht, um die muffige Luft im Zimmer gegen sauber einzutauschen.
Ella hebt verschlafen den Kopf. „Ich glaube, mir geht es besser. Aber um das zu beurteilen brauche ich zuerst eine heisse Schokolade."
Ich lache. Sie ist wirklich wieder gesund, wenn sie schon an heisse Schokoladen denken kann.
Ich betrachte Ellas Zimmer. Es ist ähnlich eingerichtet wie meines, allerdings ist hier alles in Rottönen gehalten. Beim zweiten Bett ist der Vorhang zugezogen.
„Wer wohnt denn bei dir?", frage ich neugierig.
„Jetzt habe ich eine Idee", sagt Ella und strahlt, „Hey, Nerdy!" Das letzte Wort ruft sie.
Der Vorhang bewegt sich und ein Kopf erscheint. Der Junge, den ich sehe, trägt eine schwarze Harry-Potter Brille, hat verwuschelte dunkle Haare und ein pickliges Gesicht. Seine braunen Augen werden durch die Brille stark vergrössert.
„Was is denn jetz wieder?", murmelt er.
„Ich brauche ne heisse Schokolade", sagt Ella und zieht einen Schmollmund.
Der Junge seufzt und kommt ganz hinter dem Vorhang hervor. Sein Körper ist schlaksig und er trägt ein Star-Wars T-Shirt und Boxenshorts.
„Zu Befehl", grummelt er, zieht sich eine Hose an und verschwindet dann aus der Tür.
„Ist er nicht nett?", flötet Ella.
„Er schon, aber du nicht gerade", sage ich.
„Ach komm, ich gebe ihm nur Arbeit. Und dazu bin ich ihm übergestellt, das heisst, er muss mir dienen. Er ist ein Seguidor. Ein Dämon. Und ausserdem ein Kriegsgefangener. Er kann froh sein, dass ich ihn so nett behandle. Er konnte entscheiden zwischen Gefängnis und dem hier. Er macht es also praktisch freiwillig", meint Ella.
„Ihr habt ja ein ganz schön monarchisches System", bemerke ich.
„Ja das ist halt so. Er ist noch jung, noch keine zweihundert Jahre. Wird schon noch lernen, wie man in unserer Gemeinschaft steigen kann. Obwohl er wohl nie eine Chance dazu haben wird. Wir nehmen keine Dämonen in unsere Gemeinschaft auf. Und lassen auch nie welche frei. Aber jetzt Themenwechsel: Was wollen wir heute machen?"
„Ich weiss nicht", sage ich und überlege.
„Oh, ich habe eine Idee", sagt Ella fröhlich, „Ich zeige dir einen Dämonen. Es gibt solche ganz kleinen, die sind echt schnuckelig und total ungefährlich. Das sind die, die in der untersten Schicht sind."
„Ich... na gut", sage ich.
In diesem Moment komm 'Nerdy' zurück, auf dem Tablett, das er in den Händen balanciert, zwei Becher mit heisser, dampfender Schokolade.
Ella schnappt sich die Becher, reicht mir einen und beginnt am anderen zu nippen.
Dann kommt ihr eine Idee: „Hey, Nerdy, kommst du mit auf Dämonenjagd?" Bei diesen Worten grinst sie wölfisch.
„Was?", fragt Nerdy abwesend.
„Dämonenjagd", flötet Ella vergnügt.
„Sag zuerst meinen richtigen Namen", fordert Nerdy.
„Lern du mal siezen, dann vielleicht", meint Ella.
„Entschuldigen Sie, Miss", faucht Nerdy.
„War ein Scherz. Aber dafür darf ich dir Nerdy sagen. Komm, jetzt musst du mir was zeigen", sagt Ella in bestimmendem Ton.
Nerdy seufzt auf, verdreht genervt die Augen und schliesst sie kurz danach. Und zerfällt zu Staub. Ohne Witz. Zuerst ein Mensch und dann... Staub. Als der Staub sich lichtet, sitzt am Boden ein Kobold. Naja, das Ding sieht aus, wie ich mir einen Kobold vorstelle. Klein, vielleicht kniehoch. Er hat eine hellbraune, fast schon beige Haut und grüne Zottelhaare auf dem Kopf. Seine Ohren sind übermässig gross, genau wie seine Augen, die immer noch braun sind. Als Kleidung hat er um die Hüfte ein Blatt geschwungen.
„Hab ich nicht gesagt, dass sie schnuckelig sind?", fragt Ella.
Der kleine Kobold zeigt ihr fauchend die Zähne.
Ich betrachte ihn mit neuen Augen. Er ist also ein Dämon. Ja, Ella hat es schon gesagt, aber es ist das erste Mal, dass ich einen in ihrer Gestalt sehe. Bisher habe ich es halbwegs verdrängen können, aber jetzt habe ich einen Beweis und das verwirrt mich. Bisher habe ich mir einreden können, Ella und Jake hätten sich einen kleinen Scherz erlaubt, aber jetzt?
„Ach komm schon, ich meine nicht deine Urgestalt. Ich meine die andere", sagt Ella und verkneift sich ein Grinsen.
Dann erklärt sie mir: „Dämonen haben zwei bis mehrere Gestalten, die sie annehmen können. Die ganz niedrigen haben zwei: Die Urgestalt, in der sie geboren werden, das ist die, die uns Nerdy gerade zeigt. Und dann haben sie noch eine Gestalt, die sie mit der Zeit bekommen. Diese Karrmektirkusrs genannt, was in der Sprache der Dämonen so viel wie Charakterisierung des Lebens heisst. Sie soll die Art des jeweiligen Dämons verkörpern, sagt man. Die mächtigen Dämonen können sich auch noch in zum Beispiel Menschen verwandeln. Nerdy ist zwar nicht allzu mächtig, aber gehört gerade noch zu denen, die menschliche Gestalten annehmen können. Jede beliebige Gestalt. Je nach Macht ist ihre Urgestalt grösser oder kleiner und ihr Verwandlungsvermögen hängt auch von der Macht ab. Er ist ein Erdler. Das ist die niedrigste Art der Dämonen. Doch auch dort gibt es Unterschiede. Es gibt die, die einfach eine Blume wachsen lassen können und die, die ganze Berge verschieben können. Nerdy gehört eher zu den letzteren. Als nächstes kommen die Windreiter. Sie sind Herrscher über die Luft. Jeder Dämon hat sozusagen ein Element. Die Windreiter sind die Krieger, die einfachen Soldaten. Die Erdler sind meistens Gärtner oder Heiler, selten auch Soldaten. Nach den beiden Elementen kommen Feuer und Wasser. Diese beiden sind etwa gleich hoch gestellt. Allerdings sind die Wasserwesen schon lange ausgestorben. Feuerdämonen und Wasserwesen sind die höchsten einfachen Dämonen. Dann gibt es noch Fürsten. Das sind die, die zwei bis drei Elemente beherrschen. Auch für die verschiedenen Kombinationen gibt es wieder verschiedene Namen. Ein einfacher Fürst ist einer, der zwei Elemente beherrschen. Mit drei ist man ein Graf. Ti ist ein Graf. Die Legenden sagen, dass es zwei Dämonen geben soll, die alle vier beherrschen. Die einzigen bekannten Wasserwesen. Nur schon einer von ihnen wäre unschlagbar. Der eine ist Lilith, die Mutter aller Dämonen. Der andere Dämon soll ihr eines leibliches Kind sein, das aber tot ist. Obwohl es, wenn man den Dämonen glaubt, noch lebt."
Ich brauche einen Moment um das zu verarbeiten und nicke langsam.
Nerdy faucht: „Sie ist nicht tot, Lilith's Tochter. Sie lebt, Lilith hat es uns versprochen. Und Lilith weiss alles."
„Die Hoffnung. Als ob sie so was empfinden könnten", seufzt Ella und wendet sich dann an Nerdy, „So, jetzt zeig uns deine Karmektirkusrs."
Der Kobold – Dämon – schüttelt den Kopf.
„Na gut, Mareral", sagt Ella.
Beim letzten Wort krümmt sich Nerdy schmerzerfüllt zusammen.
„Ich meinte nicht diesen Namen", presst er hervor, während er sich erneut zu Sand auflöst.
Ella antwortet auf meinen fragenden Blick hin: „Jedem Dämon, der geboren wird, wird ein Name gegeben. Besser gesagt zwei. Der eine gerät an die Öffentlichkeit, doch der andere bleibt geheim. Nur der jeweilige Dämon weiss ihn, der Name wird ihm sozusagen angeboren. Derjenige, der seinen wahren Namen erfährt, hat alle Macht über den Dämon. Schon den Namen auszusprechen genügt, um dem Dämon unsäglich Schmerzen zu bereiten, wie du hier siehst."
Der Sand löst sich auf und zum Vorschein kommt... eine Kugel. Ich pruste los. Ich weiss, es ist fies, aber ich kann nicht anders.
Das Wesen vor mir sieht wirklich aus, wie eine Kugel. Es ist rund, hat viel zu kurze Arme und Beine und kleine, grüne Flügel. Die braunen Augen sind noch grösser als beim Kobold und seine kleinen Öhrlein stehen süss ab. Beim Mund kommen zwei kleine, spitze Eckzähne zum Vorschein und auf dem Kopf hat er ein Büschel grüner Haare. Echt süss sieht er aus. Das meine ich ganz ernst.
Nerdy, die Kugel, blickt Ella hasserfüllt an und streift auch mich mit einem bösen Blick.
„Ist er nicht süss?", fragt Ella amüsiert und auch ein bisschen neckend.
„Ja schon, aber ist das nicht ziemlich fies, wenn du ihn dazu zwingst?", frage ich verlegen.
Ella lacht. „Was bitte schön soll den daran fies sein? Und zweitens haben diese Mistviecher uns mehr als das, viel Schlimmeres sogar, zugefügt."
Ich erwidere nichts mehr darauf, da ich keine Lust auf eine sinnlose Diskussion habe.
Stattdessen starre ich gebannt zu Nerdy, der sich nun wieder zurückverwandelt. Der Sand, der ihn umgibt, ist mit den Blicken undurchdringbar. Nach nur wenigen Sekunden ist der Sand vollständig wieder verschwunden und der menschliche Nerdy steht da.
„Tut es weh? Das Verwandeln, meine ich", frage ich neugierig.
Nerdy schaut mich durchdringend an. Ein wenig überrascht vielleicht.
„Aj Lillia que ar crab?", seufzt er.
„Was hast du gesagt?", frage ich stirnrunzelnd.
„Ach nichts. Und ja, es tut weh. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran", meint Nerdy.
„So", fragt Ella scharf.
„Lass gut sein", unterbreche ich sie hastig, da ich Angst habe, sie könnte wieder zu schmerzhaften Methoden greifen. Und aus irgendeinem Grund will ich Nerdy beschützen.
„Na gut", sagt Ella, „Auch egal. Aber kommt, wir haben noch einiges vor. Los geht's mit der Dämonenjagd!"

Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt