Kapitel 31

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Am Mittwoch müssen Jake und ich früh losfahren. Wir haben dafür extra Schulfrei gekriegt. Warum wir allerdings mit dem Auto fahren verstehe ich nicht ganz. Jake hat irgendetwas von Sicherheit gesagt, als ich ihn danach gefragt habe. Aber ich habe kein Wort verstanden, da er ein paar sehr fachkundige Begriffe verwendet hat.
Ich sehe eine Weile zu wie die Landschaft an uns vorbeizieht. Irgendwann schlafe ich an Jake's Schulter ein.

„Aufwachen."
Ein sanftes Rütteln weckt mich.
„Wir sind da", sagt Jake.
Verschlafen stelle ich fest, dass das Auto angehalten hat und der Fahrer mirdie Tür aufhält.
Ich setze mich entschlossen auf, streiche mir nochmal übers Haar und steigedann aus dem Auto.
Auf der anderen Seite steigt Jake aus. Er lächelt mir aufmunternd zu und deutetdann nach vorne. Ich blicke in die Richtung, in die er zeigt und erkenne einunscheinbares Gebäude.
„Was? Das soll euer Hauptgebäude sein? Das ist ja winzig."
„Naja. So sieht es von aussen aus. Der grösste Teil ist unterirdisch."
„Unterirdisch?", frage ich stirnrunzelnd.
„Ja. Schon zu Anbeginn der Zeiten hat man begonnen hier Tunnels zu bauen. Unterirdischgibt es ein riesiges Netz aus Gängen, Höhlen und so weiter. Wer sich darin Malverirrt kommt nicht mehr so schnell heraus. Aber anders herum machen genaudiese Tunnels den Dämonen einen Angriff so schwer."
„Was? Die Dämonen wissen, wo euer Quartier ist und greifen euch nicht an?"
„Doch. Es gibt immer wieder mal Angriffe. Aber sie waren bisher nie sogravierend, dass es schlimm ausgegangen wäre. Allerdings gab es seitJahrhunderten keinen wirklich ernsten Angriff mehr. Wir vermuten, dass sie sichzu einem ihrer grössten Angriffen sammeln. Wir können zwar nicht sterben, aberwenn sie es zum Beispiel schaffen., alle Ausgänge zu versperren und uns dieHoffnung nehmen, dann fragt sich: wollen wir noch leben? Mit so einer Methodekönnten sie uns ausschalten. Nicht töten, aber sie können uns so den Willennehmen zu leben. Denn was unterscheidet uns von den einfachen Menschen, wennwir keine Hoffnung mehr haben? Und die Menschen führen ein trostloses,sinnloses Leben."
„Können die Dämonen eigentlich sterben?"
Jake schaut mich überrascht an.
Dann sagt er: „Sie sind vom ersten bis zum dreizehnten Lebensjahr sterblich.Danach kann auch nichts sie umbringen. Allerdings bereitet Silber ihnen grosseSchmerzen. Zwar... doch. Silber kann sie umbringen. Reines Silber und nur das.Aber es gibt fast kein reines Silber, denn schon nur ein Hundertstel von einemStaubkorn verunreinigt das Silber dermassen, dass der Dämon es überlebt. Alsodie grösseren, die ganz schwachen kann man auch mit weniger Silber umbringen"
„Aber ist das nicht unfair? Wenn die Dämonen sterben können und ihr nicht?"
„Das sind Gedanken, die dich in unserer Gesellschaft umbringen können.Mitgefühl."
Ich will zu einer Erwiderung ansetzen, doch in diesem Moment kommt ein Mann aufuns zu.
Er ist grossgewachsen, hat dunkles Haar und hohe Wangenknochen. Die Augen sindbeinahe schwarz, nur ein leichter Grünton ist zu erkennen, und die Nase istschmal. Die Lippen sind zwar voll, aber doch so blass, dass sie blutleerwirken. Sowieso ist seine ganze Haut blass. Aber es sieht nicht schlecht aus,im Gegenteil – der Mann, der uns da entgegenkommt ist sehr attraktiv. Aberirgendwie hat er auch eine furchteinflössende Ausstrahlung. Ich würde ihn aufAnfang zwanzig schätzen.
Er nähert sich rasch und hat uns schon bald erreicht.
Als er bei uns ist streckt er mir eine Hand entgegen und sagt: „Hallo Amelie.Ich bin Adam. Aber du kannst mich ruhig Ad nennen. So wie ich meinen Sohnkenne, hat er dir diesen Namen schon längst gesagt."
Ich lächle schüchtern und schüttele dem Mann die Hand.
Jake hat neben mir demütig den Kopf gesenkt.
„Hallo, Vater", sagt er mit gefühlsloser Stimme.
„Guten Tag Jakob. Ich habe dich schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen."
„Ich hatte viel zu tun, Vater."
„Hast du es herausgefunden?"
Jake schüttelt den Kopf. „Vater, bitte verzeih."
Einen Moment sieht Ad so aus, als wolle er als wolle er Jake schlagen, dochdann fällt sein Blick auf mich und er lässt die Hand sinken.
„Nun gut. Aber nächsten Monat will ich Ergebnisse sehen, sonst musst du mit Konsequenzenrechnen," sagt Ad mit unterdrückter Wut in der Stimme.
Jake blickt zu mir und scheint sich entschuldigen zu wollen. Es tut mir leid,sagen seine Augen. Doch er scheint es nicht zu wagen, vor Ad mehr als nötig zusprechen.
„So", wendet sich Ad wieder mir zu, „Also. Du hast eine gewisse Aura, das mussich schon sagen. Du scheinst wahrhaftig eine von uns zu sein. Das freut mich,denn wir bekommen immer weniger Nachwuchs. Wir werden ein paar Testsdurchführen, um zu sehen, ob du wirklich zu uns gehörst. Denn es isttatsächlich so, dass ganz am Anfang der Zeit mal eine Guardia verschwunden istund nicht wiederaufgetaucht. Vom Aussehen könnte es auch stimmen. Sie war eineder Ersten, die ich erschaffen habe. Sie war eine grossartige Anführerin ihrerTruppe. Doch dann wurde sie von den Dämonen entführt und nie wiedergesehen. Wenndu mir bitte folgen würdest..."
Ad dreht sich um und geht in einen breiten Korridor auf der linken Seite. Vondort biegt links ab, dann geht er bei der nächsten Kreuzung gerade aus, dannbiegt er erneut links ab, dann rechts... irgendwann verliere ich den Überblick.Es gibt hier ein riesiges System an Gängen, die, wie Jake gesagt hat,unterirdisch sind. Und ich kann nirgends eine Karte oder sonst einenAnhaltspunkt für unseren Aufenthaltsort erkennen,
Nach einer halben Ewigkeit, wie es mir vorkommt, bleibt Ad vor einergeschlossenen Glastür stehen. Daneben steht auf einem weissen Schild mitgrossen, schwarzen Buchstaben: Labortrakt und Untersuchungszentrum.
Ad hält den Finger an einen Scanner unter dem Schild und die Türe öffnet sichsurrend. Entgegen meiner Erwartungen ist dieses Gebäude hier erstaunlich moderneingerichtet. Hinter der Tür müssen wir sicher nochmal zehn Minuten gehen,bevor wir in einem grossen, klinischen Raum haltmachen. Dort bittet Ad mich,auf dem weiss bezogenen Bett, das in der Mitte des Raumes steht, Platz zunehmen. Als ich sitze nimmt Ad einen Stuhl und setzt sich zu mir.
Jake steht unbehaglich neben dem Bett und verlagert sein Gewicht von einem Fussauf den anderen.
„Was stehst du so da? Hol mir das Messer", fährt Ad ihn an.
Jake nickt steif und geht rasch zu einem Wandschrank. Ein paar Sekunden späterkommt er wieder, diesmal mit einer silbernen Klinge in der Hand.
„Es gibt zwei sichere Tests, um sicherzugehen, dass du weder menschlich nochdämonisch bist. Wenn wir diese beiden Sachen ausschliessen können, so bleibtnur noch die dritte Möglichkeit. Verstanden?", erklärt Ad knapp. Ich nicke,auch wenn ich nicht ganz begreife, worauf er hinauswill. Denn ich habe nichtdas Gefühl, dass er ein Nein akzeptieren würde.
„Gut, erster Test: zeig mir dein rechtes Schlüsselbein."
Ich lasse das T-Shirt über die Schultern fallen, wie ich es schon einmal getanhabe. Ads Finger streifen kurz über meine Haut und ich spüre ein Kribbeln amSchlüsselbein. Ad nickt zufrieden.
„Weshalb muss ich eigentlich noch einen Test machen, wenn ich doch diesesMal-dings-da habe?", frage ich nachdenklich.
Ad schaut mich stirnrunzelnd an und sagt dann: „Du hast ja wirklich von nichtseine Ahnung! Ein Dämon, der gute Verwandlungskünste besitzt könnte das Malfälschen. Könnte es einfach so erscheinen lassen. Aber mit diesem Mal istsicher ausgeschlossen, dass du menschlich bist."
Ich nicke und Ad fährt fort: „So, jetzt muss ich dich bitten, dich mit derKlinge zu schneiden, dass ich Blut nehmen kann. Falls du ein Dämon bist, wasich nicht hoffe, da wir dich sonst mit ganz anderen Mitteln behandeln müssten,würde dir das Silber den Körper zerfressen."
Jake reicht mir mit zusammengekniffenem Mund das Messer und ich nehme es in dieHand. Es ist erstaunlich leicht und wunderschön verziert. Mir Rubinen undSchnörkel am Griff.
Plötzlich taucht ein Bild vor meinen Augen auf. Das Messer. Ich halte es in derHand. Das Bild beginnt sich zu bewegen. Vor mir steht eine Gestalt, doch ichkann sie nicht genau erkennen.
„Was soll ich damit?", frage ich sie.
„Es wird dir in deiner letzten Not helfen. So nimm es und brauche es erst, wenndu es nicht mehr anders weisst. Nutze es sinnvoll."
Die Bilder verschwimmen und formen sich neu. Ich stehe im Wald, halte wiederdas Messer in den Händen. Ich soll es sinnvoll nutzen, hat sie gesagt. Ist dassinnvoll. Ist der Tod die einzige Möglichkeit. Ist er sinnvoll? Nein. Ist ernicht. Aber ich habe keine Kraft mehr, kann die Fassade nicht längeraufrechterhalten. Für mich ist es die einzige Lösung. Ich schaue ein letztesMal auf den Messergriff. So wunderschön. Ich sehe, wie Buchstaben erscheinen. Leben zu Tod, aus Tag wird Nacht. Ichbeginne zu weinen. Denn ich weiss, dass ich nie sterben werde, es nicht kann.Dieser Satz aus einem Gedicht, dass mir mal viel bedeutet hat:
Schwarze Schatten überfluten mich
flüstern, unsterblich bin ich
wie ihr der Welt dabei zuseht
wie Licht mit Hoffnung vergeht
die Welt trauert über uns und euch
denn der Krieg verbreitet sich wie eine Seuch'
Rot, wie das Blut des Krieges strömt,
wie sich Leben mit dem Tod versöhnt
weiss ich, für mich und die Welt ist es zu spät
der Krieg ist endlos, wie der Vogel schon kräht
ich nehme Abschied,
schliesse in der Kette das Glied
die Hoffnung auf besseres treibt mich an, es wird vollbracht
Leben zu Tod, aus Tag wird Nacht.

Ich weiss, das Gedicht ist seltsam, doch die Bedeutung habe ich sofort gewusst:es geht um jemanden, der die Verantwortung für die Welt hat. Doch die Welt istso hoffnungslos, dass dieser Jemand keinen anderen Weg mehr sieht, als sichumzubringen, und somit die ganze Welt. In der Hoffnung, dass neues aus derAsche des alten entstehen kann. Genauso wie ich. Genau wie meine Geschichte.
„Alles okay?", fragt Ad.
Mein Gesicht ist nass vor Tränen.
„Ja, alles gut. Ich habe einfach Angst", lüge ich schnell. Doch die Bilderwollen nicht aus meinem Kopf.
„Okay, also der Test...?", fügt Ad nach einer Weile dazu.
Ich nicke und drücke mir die Klinge in die Handfläche. Dann mache ich einekurze, blitzschnelle Bewegung. Die Klinge durchschneidet meine Haut und Blutquillt hervor. Ich bin mir immer noch nicht gewohnt, dass es silbrig ist. Ellahat mir erklärt, dass es immer silbrig war und dass bis anhin nur einBlendezauber darüber gelegen habe, damit es rot wirkt.
„Sehr gut, du bist silberressistent. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden,wer du bist. Was, wissen wir jetzt ja", sagt Ad und schaut mich grinsend an.Doch irgendwie hat dieses Grinsen etwas sehr hinterhältiges an sich.
„Was bin ich denn?", frage ich.
„Die Ergebnisse sind eindeutig. Du gehörst zu uns. Darf ich eine Blutprobenehmen?"
Ich nicke und halte Ad die Hand hin. Dieser lässt vorsichtig Blut vom Schnittin ein Reagenzglas tröpfeln.
Als er fertig ist frage ich: «Darf ich das Messer behalten?». Ich weiss nicht,weshalb ich das frage, aber ich habe das Gefühl, dass das Messer mir einmalsehr viel bedeutet hat.
«Ah ich seh schon. Es hat dich gefunden», sagt Ad und ein dunkles Lächelnhuscht über sein Gesicht.
«Was?», frage ich stirnrunzelnd.
Ad schüttelt den Kopf und wendet sich meinem Blut zu.
„Gut, dann können du und Jakob jetzt gehen, ich erwarte euch beide pünktlichzum Abendessen. Dort werde ich auch die Ergebnisse bekanntgeben. Und du kannstdas verdammte Messer behalten," sagt Ad bestimmt.
Jake nickt und zieht mich dann hastig aus dem Raum.

Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt