Kapitel 15

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„Wieso musst du immer so ungeschickt sein?", schimpft Ella beim Mittagessen, und deutet dabei auf die Wasserpfütze mitten auf dem Tisch. Ey gelingt es gerade noch, das, nun leere, Glas aufzufangen, bevor es zu Boden fällt. Er blickt schuldbewusst drein, als er sieht, wie sich ein dunkler Fleck auf Ellas T-Shirt ausbreitet.
„Kommst du mit?", fragt Ella, als sie aufsteht um sich umziehen zu gehen.
Ich nicke. „Klar".
Als wir alleine sind fragt Ella: „Was hat Ti von dir gewollt?"
„Nichts. Wollte einfach ein bisschen reden", sage ich ausweichend.
„Hör mal: egal, was ihr beredet habt, glaub ihm kein Wort. Er ist ein Arschloch. Bitte, glaub mir einfach", sagt Ella und schaut mich durchdringend an.
Ich blicke sie erstaunt an und frage: „Wieso denn?".
„Ich kann dir nicht viel sagen, du musst das verstehen". Sie schaut mich so flehend an, dass ich nicke.
Ella scheint sich zusammenzureissen, dann beginnt sie zu erzählen: Weisst du, das Mädchen, dass Ti erwähnt hat, gibt, gab es wirklich. Alle haben sie gemocht. Damals war ich in Ti verliebt, doch sein Herz gehörte ihr. Er stritt es zwar immer ab, aber man merkte es ihm an. Also, auf jeden Fall wuchs dieses Mädchen bei uns, bei den Guardias auf. Sie war so wie eine Schwester für mich, weisst du? Genauer gesagt, sie war meine Schwester. Aber bei uns heisst Familie nicht unbedingt, dass man sich nah ist. Ich mag meinen eigenen Vater, den Anführer der Wächter, nicht sonderlich und kenne ihn auch nicht gut. Also, meine Schwester auf jeden Fall mochte ich. Aber sie hat gemeinsame Sache mit den Seguidors gehabt. Als meine Familie dies erfuhr, waren sie sauer auf meine Schwester. Mein Vater und meine Mutter haben es nicht erfahren, zum Glück. Sonst wäre sie total am Arsch gewesen. Weil... mein Vater hat seine ganz eigene Art, mit Verrätern umzugehen, die du vielleicht lieber nicht genauer wissen willst. Glaub mir, ist besser so. Auf jeden Fall hatte meine Schwester eben was mit Ti, was sie zur Verräterin gemacht hätte. Naja, eigentlich war sie nur meine Halbschwester. Aber auch egal. Sie, also meine Schwester, ist verschwunden. Wenige Tage, nachdem die Öffentlichkeit, die meisten Wächter meine ich damit, von ihrem Verrat erfahren hat. Die Seguidor geben uns die Schuld dafür, der Streit zwischen unseren Familien wurde dadurch noch grösser. Denn Ti ist ein ziemlich hohes Tier bei ihnen und sie haben das ein wenig anders mit Verrat. Wenn bei ihnen ein Wächter ankommt, der zu ihrer Seite wechseln will oder der jemanden von ihrer Seite wichtig ist nehmen sie ihn auf. Und die Seguidors haben meine Schwester geliebt. Wie eigentlich so ziemlich jeder andere, der sie kannte. Auch wenn sie manchmal ein echtes Biest sein konnte. Zum Beispiel, wenn sie etwas nicht bekommen hat, das sie unbedingt wollte. Aber ich will jetzt nicht zu sehr vom Thema abweichen. Wie gesagt, die Seguidors behandeln uns anders als wir sie. Wenn bei uns jemand von ihnen fragt, ob er zu uns wechseln würde... naja, er würde nicht mehr lange leben. Schau mich nicht so an! Ich würde die doch auch nie töten! Aber Ad, mein Vater,... er ist echt schlimm. Also, zurück zu meiner Schwester: Die Leiche wurde nie gefunden, aber ein Jahr nach ihrem Verschwinden hat uns jemand ein Herz mit ihrer DNA geschickt. Ein kleiner Brief war dabei, auf dem folgende Worte standen: ‚Ein Mord ist böse, aber begründbar. Ein Verrat ist ein Verstoss, aber verständlich. Doch Mord durch die Familie ist für immer und unerklärlich. Wer diese Worte liest, ist ein kleiner Mörder mit einem grossen Verrat, dessen Blut dicker als Wasser sein sollte. Aber wann hat das Element Wasser bisher je verloren?‚ Total seltsam. Aber das ist nicht wichtig. Die Seguidor glauben immer noch, wir haben sie umgebracht, aber das stimmt nicht! Deshalb sind sie böse, verstehst du? Sie sagen, ich hätte den einzigen Menschen umgebracht, der mir je etwas bedeutet hat".
„Aber du sagtest doch, deine ganze Familie werde beschuldigt?", frage ich.
Ella schüttelt mit tränengefüllten Augen ihren Kopf. „Nein", sagt sie, „das ist nur die offizielle Version. Sie glauben ich war's. Weil... weil ich die einzige war, derer sie sich anvertraut hat. Und ich dazu noch ihren Freund liebte. Wobei ich auch als Einzige gewusst habe, dass er ihr Freund ist. Bis... bis es dann so offenkundig wurde".
Ich lege den Arm um Ellas Schultern, doch sie schüttelt ihn ab.
„Wer ist sie? Wie hiess sie?", frage ich nach einer Weile.
„Es ist nicht gut, den Namen eines Toten auszusprechen. So kommt der Geist nicht zur Ruhe", sagt Ella und wischt sich dabei die Tränen weg.
„Oh", sage ich, ein wenig erstaunt über die Überzeugung in ihrer Stimme.
„Ja", sagt sie und lächelt mich an, „Aber erzähl du mir doch mal von dir. Du hast noch gar nichts über dein Leben erzählt".
„Ich spreche nicht gerne darüber", erwidere ich.
„Hattest du eine schlechte Kindheit?",fragt Ella.
„Wenn ich das wüsste, wäre ich schon glücklich", entgegne ich ein bisschen härter als beabsichtigt. Ich spüre, wie ich mich innerlich verschliesse, wie immer, wenn ich auf meine Vergangenheit angesprochen werde.
«Oh, scheisse sorry! Das hab ich voll vergessen. Tut mir leid, echt», sagt Ella bestürzt
«Ich... Mike hat mir gesagt, dass du dich nicht erinnerst. Mehr nicht. Wollte er nicht. Er sagte, ich sollte dich selbst fragen und so... aber du kannst mir ja sonst was über dich erzählen. Ich weiss praktisch nichts über dich»
„Natürlich nicht", unterbreche ich sie und muss mich zusammenreissen, um sie nicht anzuschreien, „Weshalb solltest du es wissen? Ist ja nicht so, dass diese Scheissreporter mein ganzes Leben veröffentlicht haben. Na ja, so viel sie wussten. Ich habe keine Privatsphäre, alle wissen bereits alles über mich, da es nichts über mich zu wissen gibt. Für Reporter ist das gefundenes Fressen, klar. Aber haben sie jemals erwähnt, wie beschissen es mir ging? Vor allem zu Anfangszeiten. Sogar in meinem Dorf wussten alle mehr über mein Leben als ich."
Ella blickt ein paar Momente nachdenklich in die Luft, dann sagt sie langsam: „Die Zeitung... vor drei Jahren? Das Mädchen, das aus dem Meer gefischt wurde?"
Ich nicke.
„Shit", flüstert Ella, „Sorry, das wusste ich nicht. Echt. Ich hätte dich nicht fragen sollen. Ich hab nur gedacht... als Mike es erzählt hat, hätte ich nie gedacht, dass es so schlimm ist..."
„Kannst ja nix dafür. Hast es ja nicht wissen können, oder?", frage ich und betrachte sie von der Seite.
Sie schüttelt den Kopf, rafft sich zusammen und sagt dann: „Jetzt müssen wir aber gehen. Ich muss noch die Kleider wechseln und der Unterricht beginnt in einer halben Stunde!"
Erleichtert über den Themenwechsel nicke ich und folge ihr zu ihrem Zimmer.

Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt