Kapitel 16

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Um halb acht am Dienstag mache ich mich auf den Weg zu den Kellerräumen. Wie mit Ti besprochen. Ella hat mich beim Abendessen gefragt, ob ich noch ein Brettspiel mit ihr und Olivia spielen wolle, doch ich verneinte und erklärte, dass ich müde sei. Ella schien keinen Verdacht zu schöpfen. Ich weiss nicht mal, warum ich ihr das verschweige, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie ausrasten würde, wenn sie von meinem Treffen mit Ti erführe.
Ti habe ich heute nicht mehr gesehen. Ich frage mich, ob er es sich vielleicht doch anders überlegt hat und mir nichts erzählen will. Doch meine Bedenken erweisen sich als unnötig, als ich seinen Schatten am Kellereingang erkennen kann.
„Komm", flüstert er und reicht mir seine Hand, die ich zögernd nehme.
Er zieht mich hinter sich nach und ich spüre ein seltsames Pulsieren, das von seiner Hand ausgeht und meinen Körper zu durchströmen scheint.
Nach wenigen Sekunden scheint sich die Umgebung zu verändern. Plötzlich sind wir in einer Art unterirdischen Höhle, durch die ein leuchtend blaues Gewässer fliesst.
„Wie hast du das gemacht?", frage ich und kann das Staunen in meiner Stimme nicht ganz unterdrücken.
Er grinst und flüstert geheimnisvoll: „Magie."
„Hör auf, mich zu verarschen", erwidere mich und nehme die Höhle genauer in Augenschein. Sie ist so gross, dass ich weder die Decke noch die Wände auch nur erahnen kann. Vom Wasser scheint ein seltsames Licht zu kommen, das im Umkreis von zehn Metern für Beleuchtung sorgt.
„Also?", frage ich Ti, nachdem ich die Höhle eingehend betrachtet habe.
„Ich erwarte eine Bezahlung. Dann spielen wir ein altbekanntes Frage- und Antwortspiel", sagt Ti mit gefühlloser Stimme.
„Bezahlung?", frage ich entgeistert, „So war das erstens nicht abgemacht und zweitens habe ich kein Geld."
„Sch", sagt Ti und legt einen seiner langen Finger auf meine Lippen, „Ich will kein Geld."
Er kommt mit seinem Gesicht meinem immer näher. Ich wende das Gesicht ab.
„Ich bin keine Schlam...", sage ich entrüstet.
Ti lacht leise und sagt dann: „So begehrenswert ist dein Körper nun auch wieder nicht. Ausserdem könnte ich Jede gratis haben, wenn ich nur wollte. Nein, ich will was Anderes."
Er kommt mit seinen Lippen so nahe an mein Ohr, das ich seinen Atem spüre. Dann Wispert er: „Ich will Blut."
Ich weiche erschrocken ein paar Schritte zurück.
„Gleich kommt der Teil, wo du mir erklärst, ich sei auf einer Vampirschule gelandet", sage ich und versuche meine Angst mit Spott zu übertönen.
Er lacht leise und sagt: „Mach dich nicht lächerlich. Nur ein wenig Blut, mehr nicht. Was ist ein bisschen Blut schon im Vergleich zu der Wahrheit?"
„Ich mache mich ja wohl nicht lächerlich. Ich bin nicht die, die Blut will", fauche ich.
„Ja, bist du nicht", sagt Ti sanft, „Aber ich brauche es. Also, das ist mein Deal. Und ich bin kein Vampir, nur zu deiner Beruhigung. Vampire sind schon lange ausgestorben".
„Das beruhigt mich nicht gerade", sage ich, lasse es aber zu, dass Ti ein paar Schritte auf mich zukommt, „Wie willst du Blut nehmen, wenn du kein Vampir bist, und ein Arzt ja offensichtlich auch nicht. Ich sehe keine Spritze."
Ti grinst wieder und diesmal erkenne ich zwei lange, scharfe Eckzähne, die aufblitzen.
„Darf ich?", fragt er leise.
„Wieso holst du dir nicht einfach was du willst? Du bist ja wahrscheinlich sowieso stärker als ich", sage ich vorsichtig.
„Ja, natürlich kann ich mir holen, was ich will. Aber Blut ist stärker, wenn es freiwillig gegeben wird", sagt er.
«Was soll denn das wieder heissen? Und wofür brauchst du Blut?» , frage ich genervt und ein wenig unsicher. Ich weiss, dass ich Angst haben sollte, doch irgendetwas sagt mir, dass ich Ti vertrauen kann. Vielleicht mehr noch als allen anderen.
«Das Blut brauche ich, um zu überleben. Und für die anderen Fragen: Wie gesagt, zuerst die Bezahlung», sagt Ti.
„Also gut", sage ich und überwinde den Abstand zwischen uns. Aus irgendeinem Grund weiss ich, dass nichts Schlimmes geschieht. Dass es gut ist. Oder zumindest nicht schlecht. Und wenn es nicht schlecht ist, muss es ja gut sein. Oder?
„Gib mir deine Hand", sagt Ti.
Ich hebe überrascht eine Augenbraue: „Ich dachte immer, Vampire saugen das Blut aus dem Hals."
„Ich bin aber kein Vampir", wiederholt Ti, „und ich glaube, dir ist es auch lieber beim Handgelenk»
„Tut es sehr weh?", frage ich, als er seine Lippen an meinem Handgelenk ansetzt.
In diesem Moment fühle ich, wie seine Eckzähne durch meine Haut gleiten und ich fühle... nichts. Kein Schmerz, sondern einfach nichts. Ich fühle mich plötzlich federleicht, und werde von einer wogenden Welle mitgerissen. Dann ziehen Bilder an meinen Augen vorbei. Ein Mädchen mit langen, blond-braunen Haaren und graublauen Augen. Sie ist wunderschön. Dann sehe ich einen Mann auf mich zukommen und ich bekomme Angst, obwohl ich diesen Mann noch nie gesehen habe... Bevor er mich erreicht, zerreisst sich das Bild und ich sehe, wie Ti sich vor mir aufrichtet.
„Tut mir leid, ich habe vergessen zu erwähnen, dass es passieren kann, dass du meine Erinnerungen siehst", sagt er.
Ich blicke auf mein Handgelenk und sehe und sehe zwei kleine Wunden, aus denen Blut kommt. Ti legt seine Hand darauf und als er sie wieder wegzieht, ist die Wunde verheilt. Zurückgeblieben sind nur zwei feine Narben.
„ Heisst das, du hast auch meine gesehen?", frage ich scharf. Er weicht meinem Blick aus.
„Hör mal, so was kommt extrem selten vor, bei Menschen. Ich konnte es nicht wissen...", sagt Ti ausweichend.
„Ja oder nein?", frage ich und verbessere mich dann, „Wieviel? Und wie ist das möglich?"
„Bis zu dem Moment, als dein Dad dich hierhergeschickt hat", sagt Ti resigniert.
„Scheisse, warum hast du so viel gesehen? Ich habe gerade mal zwei Bilder gesehen...", sage ich wütend.
„Ich... ich kann halbwegs kontrollieren, wie viel du siehst", gibt Ti zu.
„Wie toll. Und wieder einmal kennt jemand mein ganzes Leben", sage ich.
Ti starrt verlegen zu Boden.
„Wer war dieses Mädchen? Und der Mann?", frage ich nach langem Schweigen.
„Das Mädchen hättest du nicht sehen sollen. Der Mann war der Vater des Mädchens und das Mädchen... wie viel hat dir Aline erzählt?"
Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass er mit Aline Ella meint.
„Was soll sie erzählt haben?", frage ich verwirrt.
„Na, über mich. Und jetzt sag nicht, sie hat nichts erzählt. Ich weiss, dass sie mal in mich verliebt war und ihre tragische Liebesgeschichte jedem erzählt, den sie kennenlernt. Und ausserdem kann sie praktisch von jedem in diesem Internat die ganze Lebensgeschichte erzählen. Und tut das auch. Zumindest denen, die es interessiert. Also du siehst: Wenn du sagst, sie hat nichts gesagt; ich glaube die nicht", sagt Ti spöttisch, doch seine Augen bleiben ernst.
„Na ja... sie hat gesagt, es hätte mal ein Mädchen gegeben... ihre Schwester. Und dass ihr zusammen wart", sage ich unsicher.
Ti hat seine Hände zu Fäusten geballt und sagt dann: „Das war sie. Das Mädchen, dass du gesehen hast, das war sie..." Er bricht ab und stockt.
„Hast du noch Fragen? Sonst beginne ich dir das zu erzählen, für was du hergekommen bist", sagt Ti, nachdem er sich wieder gefasst hat.
„Für was hast du mein Blut gebraucht? Warum brauchst du BLUT um zu überleben? Was... was bist du?", frage ich.
„Es gibt nicht nur Menschen auf dieser Welt", sagt Ti, „Ich bin kein Mensch. Ich kann mich bis zu einem gewissen Grad von menschlicher Nahrung ernähren, aber von Zeit zu Zeit brauchen wir Blut, um unsere innere Energie zu stärken. Ohne Blut würden wir nach ein paar Jahrhunderten sterben. Sieh mal. Ich zeig dir mal was."
Ti ballt seine Hand zur Faust, öffnet sie wieder und lässt sie dann abrupt in die Höhe schiessen. Hinter ihm, direkt über der Seeoberfläche, schiesst aus dem nichts ein Feuerstrahl empor.
„Das kann ich nur dank dir. Dein Blut wird lange reichen. Es spendet Kraft für die «Magie»", sagt Ti lächelnd und lässt dann die andere Hand hochsausen und schräg wieder hinabgleiten. Das Feuer tanzt über die Oberfläche und verschwindet dann.
Ich komme nicht mehr aus dem Staunen heraus.
«Weitere Fragen?»
«Wieso hasst du mich, obwohl du mich noch nie zuvor gesehen hast?»
Jetzt scheint Ti wahrhaftig erstaunt zu sein. «Ich hasse dich nicht!»
«Du hast aber gesagt, dass nun wissest, wieso du mich nicht magst, als du Ella gesehen hast und... du... du bist auch nicht sonderlich nett»
Ti starrt einen Moment verblüfft gerade aus, dann dreht er sich um, so dass ich sein Gesicht nicht mehr erkennen kann. «Nett warst du ja auch nicht unbedingt»
«Siehst du? Egal, was ich sage, du musst immer so was erwidern»
«Genau wie du»
«Ach wie ich? Muss ich dich daran erinnern, dass du mich in deiner ersten Nacht hier verdammt erschreckt hast, weil du ungefragt in meinem Bett warst? Und auch jetzt... ich kenn dich noch nicht mal eine Woche!»
«Und trotzdem verstraust du mir»
«Ich vertraue dir nicht! Ich kenn dich ja kaum», protestiere ich.
Ti dreht sich wieder zu mir und lächelt ein wenig. «Und wie du mir vertraust. Weshalb sonst solltest du dich auf das hier eingelassen haben?» Er deutet auf die Höhle «Oder hast mich dein Blut nehmen lassen?»
«Ich...»
«Du musst es nicht verstehen. Du darfst es nicht verstehen. Noch nicht» Ti scheint es sogar ehrlich zu bedauern.
«Was darf ich nicht verstehen?»
«Ich werde es dir erklären, aber nicht heute. Heute ist die School of Fire&Shadows das, was du erfahren wirst. Okay?», fragt er und schaut mich durchdringend an.
Ich nicke unsicher. Das ist immer noch mehr, als ich jetzt weiss. Und ich will endlich auch verstehen, warum Ella, Olivia und die anderen so sind.
«Setz dich», sagt Ti und sitzt auch ab, «Also, naja... es alles ziemlich kompliziert. Die School of Fire&Shadows... um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, ich bin ein Mitglied. Alle der Seguidors und Guardias sind Mitglieder. Auch Aline, Jakob, Harvey, Olivia und Noah. Und Mike. Unsere Familien haben diese Schule für unsereins gegründet, die Menschen sind später dann dazu gekommen. So können wir sie besser beeinflussen. Und wir verdienen ziemlich daran. Wobei... es ist nicht wirklich nötig. Das Geld meine ich. Denn wir haben beide Familien mehr als genug. Aber ich weiche vom Thema ab, nicht wahr? Wie du sicher schon weisst, herrscht Krieg zwischen uns. Und nicht nur Streit, wie Ella oder Aline es dir vermutlich gesagt hat, um dich zu beruhigen. Sondern richtiger Krieg. Kämpfe, Schlachten... all der ganze Scheiss halt. Nur dass... dass wir fast unsterblich sind, was unseren Krieg praktisch ins endlose hinauszögert. Also werden wir wohl ewig dazu verdammt sein, diesen Kampf zu führen, verdammt von denjenigen, die diese Welt geschaffen haben. Bevor du fragst: nein, ich werde nicht heute das mit dem unsterblich erklären. Ich denke, das kann ich ruhig Ella überlassen. Und hier befinden wir uns sozusagen auf neutralem Gebiet. Mehr oder weniger zumindest. Hier darf nicht gekämpft werden. Also ich meine nicht diese Höhle, die ist ausserhalb des Geländes, aber das Internat. Wobei ich jetzt auch nicht erklären werde, wie wir hier hingekommen sind»
Ti schaut mir in die Augen und sucht nach meiner Reaktion auf diese Geschichte.
«Weshalb erzählst du mir das alles? Du könntest verwiesen werden.», sage ich vorsichtig.
Ti lacht. «Erstens ist es mir egal, da ich ja nach einer bestimmten Zeit wieder zurückkann und zweitens ist es nur solange illegal wie du kein Mitglied bist. Und ich glaube, das ändert sich bald. Also erzähle ich es quasi einem künftigen Mitglied, und das ist ja kein Verbrechen, oder?»
«Aber warum?»
«Weil ich weiss, wer du bist», sagt Ti schlicht, doch seine Stimme klingt gepresst. Er beugt sich vor und umfasst mit den Händen mein Gesicht.
Ich spüre einen plötzlichen Schmerz in mir, so tief, so stark als würde er sich schon seit Jahren in mich hineinbohren. Ich krümme mich, kann nicht mehr atmen. Ich spüre, wie Tränen an meinen Wangen runterlaufen, doch ich kann nichts tun. Kann mich nicht bewegen. Der Schmerz ist zu stark, zu allumfassend. Zu schlimm, zu alt.
Ti hebt sanft mein Gesicht an.
«Du schaffst es. Aber noch nicht jetzt.»
Dann küsst er mich auf die Stirn und legt seine Hand auf meine Augen.
Ich verliere das Bewusstsein.

Ich liege auf meinem Bett und starre auf die andere Zimmerseite. Das andere Bett ist leer, die Zimmerhälfte sauber und unberührt.
Der einzige Beweis, dass ich nicht geträumt habe sind zwei feine Narben auf meinem Handgelenk.


Tanze im Feuer, das Wunder des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt