2. Florence - Nur für einen Tag

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Marie verhielt sich heute irgendwie merkwürdig. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich immer zu anstarrte, vielleicht hatte ich ja was im Gesicht? Ich fasste mir an die Stirn, da war nichts. Als Marie mir einen merkwürdigen Blick zuwarf, fragte ich: "Hab ich da irgendwas?" Marie wurde etwas rot, wich meinem Blick aus und stammelte "Nein ... äh ... wieso ?" Ich runzelte die Stirn, strich mir noch einmal übers Gesicht und zuckte dann mit den Schulten.

Wahrscheinlich war sie einfach nervös, weil ich heute zum ersten Mal bei ihr Zuhause war. Ich Florence Marques, war bei Marie Emilia Luise von Behrens. Wir waren zwar irgendwie befreundet, aber wäre das Deutschprojekt nicht gewesen hätte ich ihr Haus bestimmt niemals zu Gesicht bekommen. Ihre Eltern waren stinkreich, ihr Vater war Chirurg und zwar irgendwie führender Fachchirurg oder so was und ihre Mutter besaß eine eigene Firma. Keine Ahnung was für eine. Sie wohnten in einem riesigem Haus direkt an der Alster, mit Pool und Veranda und Sauna und so. Marie hatte sogar ein eigenes ... wie bezeichnete man das denn ... Kindermädchen? ... naja jedenfalls eine Frau, die für sie kochte, putzte und ihre Wäsche wusch. Ihre Eltern waren nämlich fast nie Zuhause Marie hatte dann immer das ganze Haus für sich allein. Das war zumindest das, was ich gehört hatte. Aus unserer Klasse war kaum jemand jemals hier gewesen. Ich hatte Marie immer für ein bisschen eingebildet gehalten und gedacht, sie wolle niemanden hier haben, weil sie sich besser fühlte, aber seit ich sie besser kennen lernte, wurde mir bewusst, dass ich wohl vorschnell geurteilt hatte. 

Sie war überhaupt nicht eingebildet, eher schüchtern und sehr nett und sie schien sich mit mir hier bei sich Zuhause ein wenig unwohl zu fühlen. Als würde sie sich für ihr Haus und ihr Zimmer schämen. Ihr Zimmer... es war riesig, ich würde sagen, dreimal so groß wie meines, und was würde ich für ein Zimmer ohne Geschwister geben!

Ich wohnte mit meinen Eltern, meinen 3 älteren Brüdern und meiner kleinen Schwester im Hafen-Viertel Hamburgs, über unserem portugiesischem Restaurant. Ich hatte 4 Geschwister: Mathéo, Patrice, Olivier und Chloé. Unsere Wohnung war ungefähr so groß, wie der Salon in Maries Haus, aber wir waren sowieso fast nur zum schlafen dort. Gegessen wurde im Restaurant und auch sonst mussten wir dort den ganzen Tag aushelfen. Gut Chloé war erst 10, die musste nicht so viel machen, aber Patrice, Olivier und ich verbrachten die meiste Zeit des Tages mit Kellnern, Putzen und auch mal Kochen. Chloé und ich mussten uns ein Zimmer teilen und Patrice und Olivier. Matthéo war vor zwei Monaten mit seiner Freundin Maria zusammengezogen und auch Patrice sagte immer, wenn er nächstes Jahr mit der Schule fertig wäre würde er auch ausziehen. Nur Papá hatte er das noch nicht gesagt.

Eigentlich war mein Leben ja gar nicht so übel, vor allem, weil ich zwei- beziehungsweise dreisprachig aufgewachsen war und die Ferien immer wahlweise in Portugal oder Frankreich verbringen konnte, da dort meine Großeltern wohnten. Außerdem hatte ich auch außerhalb der Schule viele Freunde, denn unser Viertel wimmelte nur so von Jugendlichen in meinem Alter. Oft zogen wir Abends, wenn wir mal frei bekamen oder grad kein Betrieb war durch die Straßen oder setzten uns an die Elbe.

Aber einmal Maries Leben führen? Das wär was. Nur für einen Tag.

RomeA and JulietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt