36. Kapitel

44 6 0
                                    

Die große Sorge um meinen Bruder machte den Flug irgendwie erträglicher, schien mir mein Leid doch so viel geringer zu sein, als das von Ethan. Lysander versuchte mich zusätzlich ein bisschen abzulenken und es funktionierte ausgezeichnet, hatte aber zur Folge, dass ich so genervt war, dass ich jeden anmotzte, der es auch nur wagte mich anzusprechen. Also saß ich schließlich da, alle ließen mich in Ruhe, und dachte nach. Diesen Schwur an mich selbst, dass ich nie wieder fliegen würde, den konnte ich jetzt wohl ad acta legen. Und, wenn ich mal ehrlich zu mir selbst war, so schlimm fand ich diesen Flug gar nicht. Aber es war ja auch nicht so weit von Huntsville nach Boston wie von Miami nach Alaska oder Italien.
 Der Landeanflug gefiel mir dann nicht ganz so gut, aber ich -und alle anderen Passagiere des Fliegers- überlebten die Landung und als ich wieder festen Boden unter meinen Füßen spürte war ich rundum zufrieden, erstmal.

"Und wo gehen wir jetzt hin?" Taylor zuckte mit seinen Schultern. "Auf die Schnelle hab ich kein Hotel mehr buchen können und es ist mitten in der Nacht also-" "Also stehen unsere Chancen auf einen Ort zum Schlafen schlecht? Ich mein, gut, langen Schlaf hätten wir eh nicht mehr bekommen, aber wir bleiben hier doch noch eine Nacht, hoffentlich nur noch eine." "Ja Evelynn, ganz ruhig. Wir finden schon was. Ich kann dir nur nicht garantieren, dass es ein so komfortables Hotel wird wie bisher." "Meinst du das ist mir wichtig?",  Ja ok, ganz egal war es mir nicht, aber eineinhalb Nächte konnte ich garantiert auch in einem Hotel aushalten, in dem jetzt noch Zimmer frei waren. "Und wie kommen wir jetzt hier überhaupt weg?" "Das ist ein Flughafen. Da gibt es Taxis. Schau mal: Da steht eine ganze Reihe mit Taxis und in eines ist bestimmt noch frei." "Und von dem willst du dich dann rumkutschieren lassen bis wir was finden?" "Gott, lass mich doch einfach machen. Ich versprech dir, ich besorg uns ein Hotel. Es gibt nämlich sowas wie Internet und von Boston bis Salem ist es noch ein kleines Stückchen. Ok?" Resigniert gab ich nach. "Ja. Gut. Ich vertrau dir." Lysander war ebenfalls genervt von mir: "Leute, dass das so ausgeht hätte ich euch schon vor dem Gespräch sagen können."
 Der Taxifahrer war einer der schweigsamen Sorte, Halleluja. Er fragte nach dem Ziel und als Taylor erstmal ganz grob Salem angegeben hatte, fuhr er los. Währenddessen zog mein Freund sein Handy hervor und machte sich auf die Suche nach einem Hotel, hin und wieder telefonierte er, dann googelte er etwas und schließlich grinste er mich triumphierend an. "Hab was gefunden. Ist zwar nur ein Motel, aber bis übermorgen reicht das vollkommen. Essen kann man ja auch woanders. Es liegt allerdings mehr so Außerhalb." Dann wandte er sich dem Fahrer zu und nannte ihm die genaue Adresse. Der nickte nur und fuhr unbeirrt weiter.

Das Motel lag wirklich "etwas Außerhalb", genau genommen nämlich in einem Vorort von Salem. Auf dem Weg dorthin verschwand aber immerhin eine meiner Sorgen, ich hatte nämlich nicht gewusst, wie wir das richtige Festival finden sollten, aber es klebten einfach überall Plakate für ein Rock 'n' Roll Festival auf einem Feld einer Farm. Und die Musikgruppen hatten allesamt Namen, in denen entweder das Wort "Salem" oder das Wort "Witch", Hexe, enthalten war. Und aufgrund genau dieser Tatsache waren wir uns alle drei einig, dass wir dort unseren Abend verbringen würden.
Das Zimmer im Motel war zwar nicht großartig eingerichtet; es gab ein Doppelbett und einen Schrank und -auf meine Bitte hin- ein kleines Klappbett für Lysander. Im Großen und Ganzen konnte man zufrieden damit sein. Hundemüde, da ich es einfach nicht geschafft hatte im Flugzeug zu schlafen, legte ich mich mit sämtlichen Klamotten hin und schlief fast sofort ein.

"Hey, wach auf Evelynn", jemand strich mir sanft die Haare aus der Stirn, "Wir müssen frühstücken und dann Klamotten suchen gehen für dieses bescheuerte Festival." Sofort war ich ein bisschen wacher und schaffte es, mich aus dem Bett zu schleppen und fertig zu machen. Eigentlich hätte ich meine Haare mal wieder richtig ausgiebig waschen müssen, so viel Reiserei tat ihnen nicht gut, aber zu einem Zopf zusammengebunden ging es. Da dies hier ja ein Motel war, wie der Typ an der Rezeption uns nochmal erklärte, gab es hier kein Frühstück und wir mussten in die Stadt zu einer Bäckerei fahren um etwas zu essen zu bekommen. Es war eigentlich fast Mittag, denn Taylor hatte mich sehr lange schlafen lassen und war auf eigene Faust ein Auto mieten gegangen. Der Kerl konnte auch nicht eine Woche ohne! Zugegebenermaßen war es allerdings deutlich bequemer nicht an Fahrzeiten oder Taxifahrer gebunden zu sein und so sagte ich nichts. Das Frühstück endete im Ugly Mug Diner, wo wir Pancakes aßen. Danach liefen wir die gesamte Washington Street entlang um einen Laden zu finden, der auch nur im entferntesten so aussah, als könne man geeignete Kleidung darin finden. Salem gefiel mir unheimlich gut, die Häuser sahen so schön aus und auch die Größe der Stadt erschien mir angenehm. Taylor weigerte sich standhaft einen Anzug oder ähnliches anzuziehen, also kaufte er sich ein T-shirt, das meiner Meinung nach nicht genug "Rock 'n' Roll" war, aber es wäre dann ja seine Schuld, wenn die ihn nicht reinließen. Lysander und ich wurden erst im nächsten Laden fündig, einem Kostümverleih.  Ich lieh mir so ein tolles Kleid, dessen Rock so richtig hochflog wenn man sich drehte. Mit einem Petticoat drunter. Es war weiß mit roten Punkten, schulterfrei und reichte mir gerade so bis zu den Knien. Lysander wollte unbedingt eine kleine Lederjacke mit Fransen dran haben, er war komplett begeistert von dem Teil und ich nahm mir vor, ihm so eine zu kaufen wenn wir wieder zu Hause waren.

Das Festival begann um 17 Uhr, Tayor wurde tatsächlich reingelassen, und obwohl wir aus einem ernsten Grund hier waren, konnte ich meine Begeisterung kaum unterdrücken: Überall liefen Frauen in diesen hinreißenden Kleidern herum und die Typen in ihren Anzügen sahen auch nicht gerade schlecht aus. Nur Taylor, der alte Spielverderber, musste mal wieder auffallen. Es gab eine ziemlich lange Kette von Tischen auf denen unglaubliche Mengen an Essen standen und auf einer kleinen Holzbühne hatte sich eine Band aufgebaut, die ziemlich alte, aber annehmbare Musik spielte. Irgendwann wurde selbst Taylor von der guten Stimmung auf diesem Platz mitgerissen und forderte mich zu einem Tanz auf. Es machte so einen Spaß, dass wir direkt noch ein paar Tänzchen dranhängten, bevor wir völlig außer Atem zum überfüllten Essbereich gingen und uns danach auf einer etwas weiter entfernten Bierbank niederließen. Plötzlich hörte ich so ein komisches Geräusch, das ich einfach nicht zuordnen konnte. Es kam mir furchtbar laut vor, aber keiner um mich herum reagierte in irgendeiner Weise. "Taylor? Weißt du was das gerade war?" "Was?" "Das Geräusch. Was war das?" "Ich hab nichts gehört Evelyn, vielleicht hattest du ein bisschen zu wenig Schlaf, dabei sollte man meinen, die Zeit, die ich dir gelassen habe wäre genug gewesen. Warte mal, ich hole dir ein Glas Wasser und irgendwas neues zum Essen." "Ich hab es auch gehört", flüsterte Lysander mir leise zu,watschelte taylor dann aber hinterher (der schien die Aussage des Goblins nicht mehr gehört zu haben), da er seinen Traum, hier heute Schokoladenkuchen zu bekomme, wahr machen wollte. Mittlerweile war es dunkel geworden, ganz schön früh, trotz der Jahreszeit. Mir wurde auch langsam kalt und ich zog meine Lederjacke über das Kleid, dann begann ich ein bisschen rumzulaufen, blieb aber in der Nähe der Bierbänke, falls Taylor zurückkam, der aber beschlossen zu haben schien, dass er erstmal alle anderen Leute hier bedienen musste, so lange wie der brauchte.

Da war es wieder! Ich konnte das Geräusch nicht genau zuordnen, aber es kam mir seltsam vor, es klang so ähnlich, wie Wind, der um die Häuser pfeift, allerdings herrschte heute Abend absolute Windstille. Das Geräusch kam aus der Richtung der Kirche und ich lief darauf zu, neugierig geworden, was das war. Taylor war immernoch verschwunden um uns Essen zu holen, also ging ich allein. Es wurde immer dunkler, und nach einer Weile fragte ich mich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, alleine zu gehen, aber der Weg zurück war genau so lang wie der nach Vorne. Da konnte ich genauso gut weitergehen. Immerhin schaltete ich meine Handytaschenlampe an um den Weg vor mir zu beleuchten.  Beim Näherkommen merkte ich, dass das Geräusch nicht aus der Kirche kam, sondern von einem Ort dahinter. Hatte dort nicht der Marktplatz gelegen? Vorsichtig betrat ich ebendiesen und fand mich völlig allein neben einem großen Brunnen wieder. Die Laute kamen von ihm, denn kein neues Wasser trat aus den Wasserspeiern hervor, sondern nur kalte Luft, die mich zittern ließ. War das etwa normal? Mir kam es seltsam vor. Langsam ging ich um den Brunnen herum und wünschte mir im gleichen Augenblick, ich hätte es nicht getan, denn dort lag jemand auf dem Boden. Die Person lag in einer riesigen Pfütze mit einer dunklen Flüssigkeit, die ich bei genauerem Hinsehen als Blut identifizierte. Was sollte ich jetzt tun? Die Polizei rufen? Taylor rufen? Vielleicht sollte ich zuerst einmal nachschauen, ob der Mann noch lebte, was mir bei der Riesenmenge an Blut nicht sonderlich wahrscheinlich schien. Also trat ich an ihn heran und kniete mich neben ihm nieder, mein schönes Kleid sog sofort die Hälfte der Blutes auf und der Saum verfärbte sich rot. Na ganz klasse! Das Kleid war doch bloß geliehen. Typisch Evelynn, ärgerte ich mich über mich selbst, da liegt ein Toter vor dir und du denkst an dein Kleid. Denn wie ich beim Fühlen bemerkt hatte, war der Mann wirklich tot, vermutlich ausgeblutet wie das hier aussah. Todesursache, soweit ich das erkennen konnte, eine durchgeschnittene Kehle. Seine Hände hatte er krampfhaft zu Fäusten geballt und ich wollte sie lösen um ihn ein wenig friedlicher aussehen zu lassen, da fiel ein Zettel aus seiner linken Faust. Stand es mir zu dieses Blatt aufzufalten und zu lesen? Ach egal, der Kerl war tot, da würde er mir wohl kaum Ärger machen. Bevor ich den Zettel jedoch ganz auffalten konnte, hörte ich eine Sirene und beschloss, dass es besser war abzuhauen und zwar von diesem kompletten Festival. Sicher würde es Befragungen geben -falls diese Leute denn überhaupt wegen meinem toten Kumpel hier kamen- und dann käme mein blutgetränktes Kleid wohl nicht so gut. Schnell steckte ich den Zettel in meine Rocktasche und lief los.

HexenjagdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt