Twenty-Four

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Der nächste Tag verlief fast genauso, wie der davor. Die Sonne brannte vom Himmel herab und von Stunde zu Stunde wurde es unerträglicher.

Zum Glück waren Ferien und Niall musste nicht mit viel zu viel Bekleidung in die Schule.

Dennoch war er den ganzen Tag beschäftigt und drückte sich viel in seinem Zimmer herum, obwohl dort die Temperaturen besonders unangenehm waren.

Erst als die Sonne wieder hinter dem Haus verschwunden war, kam er heraus, eilte die Treppe hinab und ging zu seiner Mutter.

„Können wir wieder auf die Terrasse gehen?“

„Gerne, dein Vater wird bestimmt auch mitkommen wollen.“

Niall wurde verlegen.

„Können wir zuerst alleine gehen? Ich möchte dir etwas vorspielen.“

Seine Mutter seufzte, wurde aber auch aufgeregt.

„Okay, machen wir es so, ich kann ihn ja dann später holen.“

„Einverstanden.“

Nachdem die Gitarre gestimmt war, ein Ritual, ohne das es wohl nicht ging, begann er eine seiner Melodien zu spielen. Nach einigen Akkorden summte er leise die Melodie mit und fing schließlich an zu singen.

Seine Stimme war nicht die, die man nach seiner Art zu sprechen vermutet hätte. Sie hatte eine ungewöhnliche Fülle und einen warmen Klang. Fast klang sie wie die Stimme eines Erwachsenen, doch die Verblüffung darüber verflog sehr schnell, als sie dem Text folgte. Die ersten Worte kamen ihr sehr vertraut vor und gaben ihr einen Stich ins Herz.

„Niall, Niall, Niall Horan, welche Farbe hat die Sonne...“

Der Text ging in der Melodie auf. Es war, als ob gar nichts anderes möglich wäre. Der Text gehörte zur Melodie und die Melodie zum Text. Sie waren mit einander verwoben, sie waren eine Einheit – unzertrennlich und die Gefühle waren fast greifbar.

Es war genauso, wie sie es damals empfunden hatte. Wut, Trauer, Resignation, Hilflosigkeit, all das spiegelte sich wieder. Und da waren auch die Farben und das Leuchten erneut vor ihrem Auge. Sie folgte der Melodie und dem Text, war gefangen in dem Lied, umhüllt von Gefühlen, die nicht ihre eigenen waren und doch denen so ähnlich, als seien sie ein Spiegelbild.

Doch der Text und die Melodie blieben nicht bei diesen Gefühlen wie Wut und Traurigkeit. Nein, sie führten weiter. Gingen auf eine Suche, auf die Suche nach einem Ausweg und schließlich fanden sie ihn. Vor ihren Augen entstand das Bild einer Nachttischlampe, rot mit schwarzen Punkten. Doch was kindlich-naiv hätte klingen können, war es nicht, ganz im Gegenteil. Es war ein heller Pfad aus der Dunkelheit ins Licht. Ein Ausweg aus der Ausweglosigkeit; ein Trost in der Trostlosigkeit.

Tränen rannen unwillkürlich über ihr Gesicht, doch sie bemerkte es nicht. Gleichzeitig war da eine Freude, die ihr Herz zerspringen lassen wollte. Es war ein paradoxes Gefühl, denn alles bestand nicht nur aus einem einzigen Gefühl, sondern aus einer Vielzahl. Ein Mix aus Sonne und Wolken, Freude vermengt mit Traurigkeit, in einem Verhältnis, das so unbeschreiblich war, dass sie keine Worte dafür fand. Anders Niall, aus ihm sprudelten die Worte nur so heraus und der Klang seiner Stimme ummalte, ergänzte sie noch. Nicht nur Text und Melodie waren eine Einheit, jede andere Stimme hätte nicht gepasst. Das war Niall, ihr Niall. Das Tiefste seiner Seele offenbart und ihr dargeboten, als Geschenk, als Opfergabe. Er verschenkte sich selbst.

Dann war es mit einem Mal still. Es war wie der Stillstand eines Autos, direkt nach dem Rausch der Geschwindigkeit. Es war, als ob man taub geworden wäre. Nichts drang an ihr Ohr.

Erst als Niall ganz vorsichtig fragte:

„Hast du dir das so vorgestellt? War es gut, oder muss ich es ändern?“,

kam sie langsam wieder zu sich und sah ihren Sohn lange an, ohne ein Wort zu sagen.
Nun spürte sie auch die Nässe auf ihren Wangen.

„Mom?“

„Ja, Niall. Genauso hatte ich es mir gewünscht. Nein, nicht ganz, ich hätte es niemals so beschreiben können, es war viel schöner, als ich es mir je erträumt hätte.“

„Sagst du das jetzt nur, weil du meine Mutter bist?“

Wieder eine Frage, die nicht wirklich zu seinem Alter passen wollte, oder doch? Er war groß geworden.

„Nein, Niall, es war wirklich wunderschön.“

Der Junge seufzte.

Mir fällt ein Stein vom Herzen.“

Sie lachte:

„Wieso? Hattest du Angst, mir könnte es nicht gefallen?“

„Ein bisschen schon.“

„Dummer Junge, wer so spielen kann... und ich wusste gar nicht, dass du so eine tolle Stimme hast. Ich glaube, ich habe dich noch nie singen hören.“

„Habe ich auch nur gemacht, weil ich sonst den Text nicht hätte anbringen können. Einem dummen Jungen ist da nichts Besseres eingefallen.“

„Hätte ich nicht sagen sollen. Du bist nicht dumm. Entschuldige bitte. Nein, du bist ganz sicher nicht dumm – wie dumm von mir, so was zu sagen.“

Beide lachten.

„Darf dein Vater jetzt kommen? Wirst du ihm das Lied noch einmal vorspielen?“

„Ja, jetzt darf Vater gerne kommen, aber das Lied – ich meine, du kennst es doch jetzt schon.“

„Ich würde es aber gerne noch einmal hören.“

Wieder strahlte er.

„Wenn du das möchtest.“

„Ja, ich möchte. Kleinen Moment, bin gleich wieder da.“

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