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Amb...was?

Amblyopie. Das ist eine Sehschwäche, die auf keine organische Erkrankung zurückzuführen ist. Leider ist das noch nicht alles.

„Was noch, Doktor Meyer?

„Es liegt ein schwerer Fall von Gefäßverschluss vor. Das Auge wird nicht mehr richtig durchblutet.

„Also Operation!?

„Dafür gibt es keine. Die Gefäße im Auge sind so empfindlich und klein, dass man sie nicht operieren kann.

„Nun, dann nimmt er Medikamente. Eine Art Rohrreiniger.

„Das wäre eine tolle Erfindung. Und für andere Gefäße gibt es auch schon Möglichkeiten, aber nicht für das Auge.

„Keine OP, keine Medikamente - ah, ich verstehe, er ist noch so jung. Das verwächst sich mit der Zeit. Eine Weile wird er gegen Türen laufen, oder Schubladen, dann wird er wieder richtig sehen können.

Der Arzt schluckte. Er hasste es, solche Nachrichten zu überbringen, er hasste es vor allem bei solchen Eltern und schon ganz und gar, wenn es einen Freund betraf.

Scheibenhonig! Wo war seine Objektivität, sein Abstand zum Patienten. Er hatte den schlimmsten Fehler gemacht, den ein Arzt machen konnte. Er hatte sich auf eine emotionale Verbindung mit seinem kleinen Patienten eingelassen. Dieser Junge hatte es ihm unmöglich gemacht, auf Abstand zu gehen. Zu unschuldig hatte er Fragen gestellt, hatte sich mit ihm unterhalten, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Fast, als wäre er ein Onkel oder anderer Verwandter. Er machte den Job jetzt seit über 15 Jahren, doch so was war ihm noch nie passiert.

Krampfhaft suchte er nach Worten. Die Wahrheit schrie und wollte heraus, doch seine Lippen ließen keinen Ton nach außen. Keine Silbe wollte seinen Mund verlassen.

„Mr Horan...“,

er stockte erneut.

„James“,

sie sah ihren Mann mit großen Augen an.

„Doktor Meyer will sagen, dass Niall blind wird.

„Nein, will er nicht. Das hast Du falsch verstanden.

„Tut mir leid, Mr Horan, Ihre Frau hat mich nicht falsch verstanden...

James sprang auf und hielt sich die Ohren zu.

„Nein, nein, nein. Er darf nicht, er kann nicht, er wird nicht...blind.

Es tat in der Seele weh, diesem Mann dabei zuzusehen, wie er sich der Wahrheit zu entziehen versuchte. Seine Frau stand auf und ging hinüber zu ihrem Mann. Zärtlich, aber fest nahm sie seine Hände in die ihren und zog sie von seinen Ohren fort.

„Liebling, wir müssen es akzeptieren. Aber egal was auch geschieht, er bleibt unser Niall. Und unser Niall ist unser Niall, ob er nun sieht, oder nicht. Ob er hört oder nicht.

Du musst es auch akzeptieren für Niall. Du musst stark bleiben, für ihn. Er darf nicht merken, dass wir Angst haben, sonst können wir ihm seine Angst nicht nehmen.

Er sah sie verständnislos an. Plötzlich wurden seine Knie weich und er wäre wahrscheinlich gefallen, wenn ihn seine Frau nicht gestützt hätte. Zum Glück stand in der Ecke, in der sie sich befanden, ein altes Ledersofa. Schwer plumpste er auf das Sitzmöbel und verbarg sein Gesicht in den Händen. Seine Frau streichelte ihm sanft den Rücken, was er aber gar nicht zu spüren schien.

Jonathan Meyer stand hilflos hinter seinem Schreibtisch und beobachtete die Szene neugierig. Woher nahm diese Frau die Kraft, sich selbst zusammenzureißen und noch ihren Mann zu stützen? Neid beschlich ihn.

Er hatte viele Frauen gekannt, aber keine, die nur annähernd so stark war. Vielleicht hatte er deswegen nie geheiratet, außerdem war er mit seinem Job verheiratet. Keine Ehefrau würde das längere Zeit ertragen - na ja, die da vielleicht schon, aber da kam er zu spät. Doktor Meyer schüttelte seinen Kopf, wie um die unliebsamen Gedanken abzuschütteln, als sei es nichts weiter, wie die Nässe in seinen Haaren.

Plötzlich ging ein Ruck durch James. Er straffte den Körper, nahm die Hände vom Gesicht und stand auf. Wie ausgewechselt stand er da. Ruhig, gefasst „ein Fels in der Brandung", ging es dem Arzt durch den Kopf. Es war, als hätte die Frau ihrem Mann etwas von ihrem starken Willen, ihrer Kraft abgegeben. Nun reichte es für beide, oder sollte er sagen, für alle drei?

„Doktor, es tut mir leid. Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen.

„Doch, Sie hatten alles Recht dazu. Es gibt nichts, was entschuldigt werden müsste. Ich hätte viel lieber bessere Nachrichten für Sie gehabt.

Kurz durchzuckte eine höhnische Antwort James Kopf, doch sie verging so schnell, wie sie gekommen war.

„Danke. Wie geht es jetzt weiter? Ich meine, irgendetwas müssen wir doch tun können.

Der Arzt schluckte.

„Nicht aus medizinischer Sicht. Sie können nur noch Ihren Sohn langsam und schonend darauf vorbereiten. Vielleicht suchen Sie eine gute Vorschule für Sehbehinderte. Verdammt, - Entschuldigung - ich bin mir nicht einmal sicher, ob Sie es ihm sagen sollen. Doch das müssen Sie selbst entscheiden, Sie kennen ihn am besten.

Feel With The Hearts Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt