Feel With The Hearts

Fourteen

4 Jahre später

Sie sah aus dem Küchenfenster, als der Schulbus vor ihrem Haus hielt. Ihr Sohn stieg aus und klappte den weißen Stock aus. Hinter ihm wurde die Schiebetüre zugezogen. Er drehte sich noch einmal um und winkte. Dann wandte er sich zum Haus um und ging, den Stock immer hin und her bewegend, auf die Haustür zu.
Sie öffnete ihm und ihr Begrüßungsritual begann, gefolgt von der Frage, wie sein Tag war.

„Großartig. Wir haben heute eine neue Geschichte angefangen zu lesen.“

„Und wie ging es?“

„Es war schwer, aber nicht zu schwer. Ich habe eine Menge neuer Worte gelernt. Wusstest du, dass man Phantasien noch mit „ph" schreibt?“

Während er munter darauf los erzählte, entledigte er sich seiner Jacke, hing sie ordentlich an den Haken und seinen Stock, jetzt wieder eingeklappt, daneben.

„Nein, das wusste ich nicht. Was ist Phantasien?“

„Das ist ein Land und es ist ein Eigenname, deswegen wird es nicht mit „f" geschrieben.“

„Wo liegt denn das Land? Davon habe ich ja noch nie etwas gehört.“

Mit roten Wangen erzählte er von der Geschichte, die sie in der Schule angefangen hatten zu lesen. Zuerst war es ihm schwer gefallen, die Punkte der Brailleschrift zu entziffern, dann war er an einen Punkt geraten, an dem es „klick" gemacht hatte und seitdem war er kaum von seinen Büchern wegzubekommen. Für sie war es unmöglich mitzuhalten. Ihre Finger wollten einfach keinen Sinn in den vielen Punkten erkennen. Deswegen versuchte sie jedes Buch, welches Johnny in Braille hatte, auch in einer für sie lesbaren Form im Bücherregal stehen zu haben. Sie wollte schließlich wissen, was ihr Sohn las.

„Weiter sind wir noch nicht gekommen. Leider. Ich wollte es ja hier weiterlesen, aber Frau Dalian sagt, ich soll warten, bis wir es im Unterricht weiterlesen. Dabei wurde es gerade so spannend.“

Sie lächelte.

„Das kann ich mir vorstellen, aber was wolltest du dann im Unterricht machen, während dort weitergelesen wird?“

Er hob die Schultern.

„Keine Ahnung - vielleicht ein anderes Buch lesen?“

„Wie wäre es denn, wenn du hier ein anderes liest?“

„Okay! Was gibt es zu essen?“

„Regenwürmer in einer süßen Chilisoße.“

„Du weißt es also noch nicht.“

„Erraten, ich wollte Dich fragen, worauf Du Lust hast. Ich hätte Frikadellen, Hähnchen, oder Spaghetti im Angebot.“

„Und was ist mit den Regenwürmern? Nicht das die dann wegkriechen.“

„Die sind fest verschlossen und bleiben wo sie sind. Also?“

„Hähnchen!“

„Zu Befehl! Dauert aber ein bisschen, bis das Fleisch durch ist.“

In diesem Moment hörten beide von draußen lautes Kinderlachen. Anscheinend hatten sich die Kinder der Straße heute vor ihrem Haus versammelt. Wäre es anders gekommen, dann wäre Niall jetzt mitten unter ihnen. Ihr Sohn legte den Kopf schräg, untrügliches Zeichen dafür, dass er eine Frage stellen wollte.

„Wenn es noch ein bisschen dauert, darf ich dann noch ein bisschen rausgehen?“

Zuerst war sie erschrocken über diese Frage, dann begann ein Sturm der widersprüchlichen Gefühle in ihrem Kopf loszubrechen. Beinahe hätte sie automatisch „nein" gesagt. Doch dann überkam sie das Gefühl, dass es gar keine schlechte Idee sein könnte, wenn Niall sich mit „normalen" Kindern träfe.

„Halbe Stunde und ziehe deine Jacke an.“

„Ich darf also?“

Er klang ungläubig.

„Ja, du darfst. Gib auf dich Acht und bleibe in der Nähe.“

Der Junge wandte ihr das Gesicht zu, es sah aus, als wolle er ihr tief in die Augen sehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr direkt in die Seele blickte, oder ins Herz, wenn man so wollte.

„Werde ich, Mami. Bis dann. Ähm...“

„Noch etwas?“

„Ja, ich habe keine Uhr, kannst du mich in einer halben Stunde rufen?“

Sie nickte, dann wurde ihr klar, dass Niall das ja nicht mitbekam, also fügte sie hinzu:

„Mache ich. Viel Spaß!“

„Danke!“

Und schon war er im Flur.
Eine Minute später hörte sie die Haustür. Sie sah ihm besorgt nach und wandte sich dann dem Kühlschrank zu, um das Hähnchen herauszunehmen.