DREISSIGSTER AUGENBLICK

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Ich kann die bunten Lichter der Karussells schon von weitem sehen. Lautes Geschrei und Musik dringen an mein Ohr.

Als ich jünger war, haben meine Großeltern mich immer mit auf die Kirmes genommen. Ich habe es geliebt.
Dinge ändern sich.

Ich bezahle den Eintritt für uns Beide. Grace verspricht mir hoch und heilig, sie würde mir das Geld morgen in der Schule wieder geben.
"Nicht nötig", erwidere ich nur. Ich fühle mich sowieso schon schlecht genug, nur weil sie so viel mit mir zu tun hat. Ehrlich, mir würde jeder leid tun, der mit mir zu tun hat. Einer der vielen Gründe, wieso ich möglichst wenig mit meinen Eltern zu tun haben will.
Und genau deshalb ist es auch das Mindeste, das ich für Grace tun kann, um ihr zu danken.
...Irgendwie.

Das scheint sie schließlich auch einzusehen, ohne dass ich es näher erklären muss. Und dafür bin ich ihr verdammt dankbar.

Einige Karussellrunden, zwei Funnel Cakes und viele bunte Lichter, später finden wir uns auf dem Riesenrad wieder.

Grace hat sich halb auf die Bank gelegt, und obwohl es verdammt ungemütlich aussieht, muss ich irgendwie lächeln.
Ihr rotbraunes Haar hängt von der Bank und ein Lächeln liegt auf ihren Lippen. Ihre Augen sind geschlossen, als würde sie schlafen.

Ich wende meine Augen von ihr und lasse meinen Blick über die Gegend schweifen, die ich von hier aus sehen kann.
Rechts von mir die Stadt, links von mir Wiesen und Wälder.
Und über uns der Himmel.
Trotz der vielen Lichter unter uns kann ich die Sterne sehen.

Plötzlich spüre ich, wie Grace ihrem Kopf an meine Schulter lehnt.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass sie sich bewegt hat.
Bis jetzt.

Ich schiele zu ihr.
Irgendwie fühlt es sich gut an.
Ihre Nähe.
Ungewohnt, aber gut.
Sie stellt keine dummen Fragen, und wenn doch, dann ist es okay für sie, wenn ich ihr keine richtige Antwort geben kann und will.

"Ehrlich, Grace, wieso bist du so?" frage ich sie, ohne vorher groß darüber nachzudenken. Schon wieder.

Sie sieht zu mir auf.
"So...was?"

"So...so du?" Meine Worte lassen Grace schmunzeln. "Ich meine, wieso verbringst du deine Zeit ausgerechnet mit mir? Das verstehe ich einfach immer noch nicht."

"Wie du schon gesagt hast, du hast dich zu lange unsichtbar gefühlt." Sie hat recht. Schlimmer als Hass ist Ignoranz.
"Und irgendjemand muss Dir ja dort heraushelfen. Außerdem hilfst du mir. Das ist nur gerecht!"

Ich helfe ihr? Da verwechselt sie aber etwas ganz gewaltig. Womit sollte ich ihr denn helfen?
Ich kann niemandem helfen.
Ich bin doch nur ich.
Nichts besonders.

Grace sieht mich noch immer an, doch nun verschwindet das Lächeln von ihrem Gesicht und ihr Blick gleitet in die Ferne, als würde sie dort Erinnerungen vorbeiziehen sehen können.

"Weißt du, Jasper, das Leben hat uns beide zerstört. Zwar auf unterschiedliche Art und Weise, aber im Endeffekt kommt es aufs Gleiche raus."

Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spieltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt