ZEHNTER AUGENBLICK

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Ich kann mich heute noch schwerer als sonst auf den Unterricht konzentrieren.
Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil ich es zum ersten Mal wirklich versuche.
Doch meine Gedanken kreisen nur um das U-Bahn-Mädchen.
Mir fällt auf, dass ich nicht einmal ihren Namen kenne. Allerdings erschien es mir bisher auch nicht wichtig zu sein, ihn zu kennen.

Das nächste Mal sehe ich sie in Geschichte.
Sie sitzt bereits auf ihrem- oder meinem alten- Platz, als ich den Raum betrete.

Als ich mich auf meinem Stuhl niederlasse, grüßt sie mich mit einem kurzen...Blick. Es ist kein Lächeln oder dergleichen, nur ein kurzer Blick, der signalisiert "Hey, ich hab dich bemerkt."
Und manchmal ist das genug.
So wie jetzt.
Wer wenig lächelt, weiß umso mehr, wie sehr ein Lächeln bedeutet, sagt Granny immer. Oder so ähnlich.

Während der Stunde kritzele ich auf meinem Block herum; weder U-Bahn-Mädchen noch ich sagen etwas. Darum schweigen wir einfach wieder.
So wie immer.

Die letzte Stunde haben wir ebenfalls gemeinsam. Literatur.

Am Stundenende stehen wir beinahe synchron auf und packen unsere Sachen zusammen.
Ich stecke mir- so wie immer- meine Kopfhörer in die Ohren und laufe los.
U-Bahn-Mädchen folgt mir.
Als wir das Schultor passieren, ziehe ich schließlich einen der Stöpsel aus den Ohren und biete ihn ihr Wortlos an.
Guns N' Roses' November Rain tönt leise aus dem kleinen Stöpsel.

Sie sieht mich kurz an und der Anflug eines Lächelns ist auf ihrem Gesicht zu erkennen.
Ich nicke ihr leicht zu, dann nimmt sie den Kopfhörer endlich und wir setzen unseren Weg fort.
Denn offenbar ist der der selbe.

Ich bleibe schließlich vor der Einfahrt meiner Straße stehen. "Ich muss hier rein", erkläre ich.
Sie nickt und streicht sich eine Strähne ihres rot-braunen Haares hinters Ohr. "Ich auch."

Erst vor meinem Haus bleibt sie wieder stehen und hält mir meinen Ohrstöpsel hin. "Bis dann. Und dankeschön!" Ich frage mich, woher sie weiß, dass ich hier wohne.
Doch ich sage nichts. Irgendwie mag ich es, dass ich nicht alles über sie weiß.

Vielleicht ist sie so wie ich.
Jeder denkt, alles über uns zu wissen, dabei wissen sie gar nichts.
"Bis dann!" erwiedere ich. "Vielleicht erklärst du mir das mit der Liste ja irgendwann mal genauer."
Sie grinst. "Das war das längste, das du je zu mir gesagt hast."

Ich weiß nicht wieso, doch als ich mich umdrehe und zum Haus laufe, habe ich ein kleines Lächeln auf den Lippen.

Erst als ich wieder im Haus bin, fällt mir auf, dass ich wieder vergessen habe, sie nach ihrem Namen zu fragen. Doch als ich den Mut gefasst habe, wieder nach draußen zu gehen, um sie danach zu fragen, ist sie bereits verschwunden. Ich bin enttäuscht und ein wenig glücklich zugleich.

Vielleicht sind wir ja jetzt so etwas wie Leidensgenossen.
Oder Verbündete.
Vielleicht keine Freunde, aber immerhin Verbündete. Und für diesen Moment reicht das auch vollkommen.

Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spieltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt