EINUNDSECHZIGSTER AUGENBLICK

403 73 4
                                    

Ich kann nicht zurück.
Alles, was ich seit dem Morgen vor acht Tagen tue, ist auf meinem Bett zu sitzen und in eine dunkle Ecke meines Zimmers zu starren.
Ich kann kaum essen.
Ich kann nicht schlafen.
Ich kann nicht weinen.
Ich kann nicht sprechen.
Mir ist alles egal.

Ich reagiere kaum, wenn meine Eltern mit mir sprechen und mir Neuigkeiten von Grace berichten, mit denen Ginny sie stetig versorgt.
Meistens sind es sowieso nur irgendwelche gesunkenen oder gestiegenen Blutwerte.
Grace ist wie eine lebendige Tote. Sie atmet, doch sie lebt nicht. So wie ich, bevor ich sie kannte. Und jetzt teilen wir wieder ein Schicksal.

Meine Zimmertür geht auf. Wage bekomme ich mit, wie Mom eintritt und sich neben mir auf dem Bett nieder lässt. Sie hält etwas in der Hand. "Jasper?" macht sie vorsichtig auf sich aufmerksam. "Du hast Post bekommen."
Ich gebe nur ein undefinierbares Geräusch von mir.
"Post vom Weihnachtsmann", fügt sie hinzu. Also haben wir eine Antwort bekommen.
Na und? Jetzt ist doch eh alles egal. Grace wird sterben.

"Liebling...willst du ihn dir gar nicht durchlesen?"
Ich reagiere nicht.
"Wir könnten dich auch zu Grace fahren, wenn du das lieber möchtest. Wirklich, das ist kein Problem für und, nur...nur solltest du vielleicht irgendetwas tun. Spazieren gehen. Oder etwas essen."
Ich weiß, dass sie sich nur Sorgen um mich macht, doch ihre Worte machen mich plötzlich so unfassbar wütend.

"Ich bin okay, Mom!" fahre ich sie urplötzlich an.
Meine Mutter zuckt zurück wie ein verängstigtes Kaninchen.

Als ich den Schmerz, die Unsicherheit und all die Sorge in ihren Augen erkenne, bemerke ich, wie sehr mein Verhalten ihr Angst macht.
Angst davor, ihren Sohn wieder zu verlieren.

"M...Mom, ich...Es tut mir so leid." Meine letzten Worte gehen in einem Schluchzen unter, während sie mich sanft an sich zieht.
Es ist alles meine Schuld.
Dass Grace sterben muss, dass Mom Angst hat, dass unsere Familie auseinander bricht.

Ewigkeiten vergehen, die sich nur wie Sekunden anfühlen, in denen wir einfach eng umschlungen auf meinem Bett sitzen, während vor mich hinweine.
Schließlich kommt sogar Dad zu uns und legt noch zusätzlich seine Arme um uns.

Und obwohl ich weiß, wie unfair es von mir ist, sie in dem Glauben zu lassen, alles würde wieder gut werden, kann ich mich nicht aus der Umarmung lösen.

Und so betrüge ich mich selbst.

Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spieltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt