Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spielt

FÜNFZIGSTER AUGENBLICK

An diesem Spätherbstmorgen sieht der Himmel aus wie Zuckerwatte.

Grace und ich sitzen auf einem Hügel und sehen dabei zu, wie die Nacht vor dem Tag flüchtet, Dunkelheit dem Licht weicht und aus den Farben der Nacht, die für mich so unbeschreiblich schön sind, ein Farbenspiel des Lichts wird, das unter den Strahlen der Morgensonne nur so strahlt.

Statt zu zeichnen, schieße ich nur ein Foto mit meiner Polaroidkamera, das all diese überwältigende Schönheit gar nicht einfangen kann. Grace legt das Foto in ihr Buch und hakt dann auf der neuen Liste Punkt 16 ab.

Ich werfe einen Blick darauf. In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Zeit uns förmlich unter den Fingern zerrinnt, haben wir noch nicht gerade viel erledigt.

"Punkt vierzehn kannst du doch auch schon abhaken...also zumindest so halb." Grace lacht. "Weil ich den September überlebt habe?" Ich nicke, doch Grace schüttelt den Kopf. "Das kann ich leider nicht. Immerhin steht da auch Februar. Das ist Teil des Wunsches. Und außerdem könnte ich auch nächstes Jahr im Februar sterben." Als sie sieht, wie mein Gesicht sich aufhellt, in der Hoffnung, die könnte noch ein wenig länger leben, als nur drei verdammte Monate, schüttelt sie jedoch den Kopf. "Allerdings ist das wohl kaum möglich. Wusstest du, dass im Februar laut Statistik die meisten Leute sterben?" Ich nicke. "Und im September die wenigsten", füge ich leise hinzu.

All die Gedanken über den bevorstehenden, unüberwindbaren Abschied, treiben mich wieder näher zu dem Rand des dunklen Loches, das wohl immer in meinem Unterbewusstsein lauern wird, bereit dazu, mich wieder zu verschlucken, in einem schwachen Moment, in dem ich nicht aufpasse.
Einem Moment, in dem Grace mich vielleicht verlässt.
Für immer.