SIEBENUNDFÜNFZIGSTER AUGENBLICK

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"War das dein erster Kuss?" fragt Grace leise. Sie liegt ausgestreckt neben mir auf der Seite, die Arme verschränkt und den Kopf darauf abgelegt. Als würde sie meine eigene Haltung widerspiegeln. Das Gras kitzelt an meiner nackten Haut, der Duft von Erde und Seewasser steigt mir in die Nase.

Ich schüttle den Kopf. "Nein. Auch wenn ich wünschte, er wäre es gewesen." Sie gibt ein kurzes, leises Lachen von sich, fragt jedoch nicht nach dem Umständen meines ersten Kusses und auch ich gehe nicht näher darauf ein.
"Und deiner?" will ich wissen. Sie nickt nur. "Und es war ein guter Kuss." Nun bin ich an der Reihe, zu schmunzeln.
"Danke", fügt Grace noch hinzu.

Dann schweigen wir. Für eine lange, lange Zeit und sehen uns einfach nur an.
Mit Grace ist es okay, nichts zu sagen. Als wäre das Schweigen nicht mehr mein Feind.

Ein leichter Wind kommt auf und eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Auch Grace fröstelt.
"Lass uns gehen. Nicht, dass alle sich Sorgen um uns machen!" schlage ich vor und stehe langsam auf. Grace folgt mir und gemeinsam sammeln wir unsere Klamotten vom Ufer auf, um und wieder anzuziehen. Unsere Schuhe und Socken sind natürlich noch immer klitschnass und eiskalt.

Grace hält vor meinem Haus. Ich habe das Gefühl, es ist bereits dabei, zu dämmern, obwohl es mitten in der Nacht ist. Sie bringt mich bis zur Haustür. In Filmen bringt sonst immer der Typ das Mädchen zur Haustür.
Aber wir sind nun einmal kein Film.
Wir sind wir. Und es ist perfekt, so wie es ist.

"Sei wie die Sonne, Jas. Stehe jeden Morgen erneut auf und bringe alles um dich herum zum Strahlen." sagt Grace plötzlich, ohne dass ich weiß, wie sie so plötzlich darauf kommt.
"Aber was, wenn ich der Mond bin?" flüstere ich mit erstickter Stimme. Sie irgendeinem Grund stimmt mich das, was sie sagt, traurig.
"Dann leuchte anderen den Weg in dunklen Zeiten."
"Ich denke, ich mag meine Rolle als Mond."
Sie lächelt leicht. "Ich denke, ich selbst wäre eher ein Stern. Ich bin da, leuchte kurz auf und verschwinde wieder."
Ich nicke leicht. "Und dennoch veränderst du alles."

Ihr Lächeln ist so warm, so gnädig, dass mir beinahe die Tränen in die Augen steigen. Es hört sich fast schon wie ein Abschied an.
Irgendwie.
Sie haucht mir einen Kuss auf die Wange, dann dreht sie sich um und geht.

Ich sehe ihr noch lange hinterher, auch als sie schon längst hinter der nächsten Straßenecke verschwunden ist.

Grace ist nicht nur ein Stern. Sie ist eine ganze Galaxie, eine Welt, ein Universum. Doch das sage ich ihr nicht.

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Ich habe eine neue Geschichte veröffentlicht. Eine Geschichte, die nicht ganz so bedrückend ist, wie diese hier.
Tatsächlich geht es um "die Bösen" und ich würde es eher unter dem Genre 'Action' einstufen.
Falls ihr interessiert seid, schaut doch mal bei "Too good (to be good for me)" rein :)

Sorry für die (nicht ganz so schleichende) Schleichwerbung, haha.

Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spieltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt