Es war kurz vor Mitternacht, als ich endlich aufatmen und mich auf mein Bett fallen lassen konnte. Alle Aufgaben für heute waren erledigt. Und zum Glück auch ohne weitere Zwischenfälle oder Gewalt von meiner Familie. Müde und hungrig schaufelte ich mir meine Portion des Abendessens in den Mund. Es war nur noch lauwarm, aber besser als nichts. Kochen hatte ich im Laufe der Jahre zwangsweise gelernt und alles, was ich so zustande bekam, schmeckte auch recht anständig. Die Schüssel hatte ich mir bereits in der Küche bereitgestellt, bevor ich den Tisch zum Abendessen gedeckt hatte. Wenn ich das nicht tat, war es gut möglich, dass nichts für mich übrig blieb und ich mit Dosenzeug über den Tag kommen musste. Oder gar nichts. Versuchte ich etwas aus dem Kühlschrank zu stehlen, das ich nicht zum Kochen brauchte, gab es schlimmen Ärger. Das war halt so, wenn man hier der ungeliebte Sohn war.
Auch mein Zimmer war nur spärlich eingerichtet. Ich wohnte in der obersten Etage, direkt unter der Dachschräge. Anderen wäre mein eigenes kleines Reich vielleicht unglaublich toll vorgekommen, ich meine, es war alles intakt und nirgendwo waren Schimmelflecken an den Wänden, aber ich sah dafür jeden Tag genauestens die Kehrseite und was ich besitzen könnte, hätte es das Schicksal nur besser mit mir gemeint.
Von meinem Bett bis zur gegenüber liegenden Wand brauchte man drei Schritte. In eine Ecke drängte sich ein Schreibtisch, daneben ein schmales Regal mit meinem alten Spielzeug aus Kleinkindertagen und einigen Büchern. Alles leider bloß Attrappe, ich hatte nie Zeit, um in Nostalgie schwelgend damit zu spielen oder mich mal komplett durch einen der Schinken durchzulesen. Ich war generell langsam im Lesen und die hier waren nicht einmal für mein Alter oder meine Interessen geeignet.
Als ich fertig mit Essen war, stellte ich das Schälchen beiseite, öffnete mein kleines Fenster für die Nacht und vergrub mich schnell in der Bettdecke, bevor mir kalt wurde. Im Dunkeln sah mein Raum immer bedrohlicher aus als sonst. Die Schatten wanderten durch die Schräge in sehr seltsamen Mustern und fühlten sich beinahe lebendig an, obwohl ich wusste, dass es Monster und Geister nicht gab. Ich sehnte mich dann nur immer nach den Zimmern über der Schule zurück, wo ich nicht nur sehr viel wärmeres Bettzeug hatte, sondern auch ein Fenster von der mondabgewandten Seite. Keine wandernden Lichter und Schatten, sodass ich beruhigt einschlafen konnte. Seltsam, nicht? Wenn man sich in einem Lehrgebäude eher zuhause fühlte als Zuhause. Sicherer, willkommener und wo bloß erwartet wurde, dass man den Lehrern sechs bis sieben Schulstunden Aufmerksamkeit schenkte. Keine harte körperliche Arbeit, Schläge oder noch schlimmeres. Ich wünschte nur, ich dürfte irgendwann für immer dort bleiben...
Ich döste bereits mit diesen sehnsüchtigen Gedanken in meinem Kopf vor mich hin, als mich ein ungewohntes Geräusch weckte. Mein Handy auf meinem Nachttisch begann zu leuchten und zu summen. Jemand rief mich um die Zeit noch an? Ich hatte noch nie einen Anruf bekommen! Aufgeregt nahm ich an, ohne mich daran zu stören, dass es eine unbekannte Nummer war.
"Hallo?", fragte ich und spürte, wie vor freudiger Erwartung meine Wangen fleckig aufglühten. "Marcus? Entschuldigung dass ich so spät anrufe!" M-meine Lehrerin! Sie klang irgendwie besorgt. Meine Freude verblasste und ich spürte, wie sich meine Hand um das Handy leicht verkrampfte und es wie rettendes Treibgut während der Flut umklammerte.
Ich räusperte mich und schluckte die Anspannung herunter, bevor ich antwortete: "Schon gut, was gibt es denn?"
"Du hattest uns gar nicht gesagt, dass du die Schule wechseln würdest! Sonst hätten wir dich doch noch verabschiedet und dir noch etwas kleines als Glücksbringer mitgegeben, damit du-"
"D-die Schule wechseln?!", keuchte ich entsetzt. Hatte ich das richtig verstanden? Die Stimme am anderen Ende hörte sich genauso verwirrt an, wie ich mich fühlte. "Du wusstest es nicht? Deine Mutter hatte heute Nachmittag angerufen, um mir Bescheid zu sagen und dich abzumelden. Sie meinte, sie hätte ein besseres Angebot gefunden. Das ist echt schade, ich hab dich gern als Schüler gehabt, aber gegen die Entscheidung kann ich mich nicht querstellen. Hoffentlich wird es auf der neuen Schule besser für dich."
"Aber ich will an keine andere Schule! Ich will bei Ihnen bleiben, in Ihrer Klasse!", beharrte ich, meine Stimme schwankte und in meinen Augenwinkeln konnte ich das Brennen der ersten Tränen spüren. Wie sollte ich jemals Anschluss finden? Mitten im Schuljahr, in einer neuen Klasse mit mir völlig unbekannten Mitschülern?
"Vielleicht schaffst du es ja, deine Mutter nochmal umzustimmen. Schlaf jetzt erstmal und egal was passiert, du kannst mich jederzeit um Rat fragen, wenn es ein Problem geben sollte!"
Tapfer nickte ich, ein winziger Hoffnungsschimmer flammte in mir auf. "Dankeschön", murmelte ich noch, bevor ich auflegte und mit wirbelnden Gedanken begann, Löcher in die Zimmerdecke zu starren. Dem Zuhause beraubt worden zu sein fühlte sich schrecklich an. Ich konnte nur hoffen, dass meine neuen Klassenkameraden nett zu mir waren und ich dort wieder jemanden fand, dem ich meine Probleme anvertrauen konnte.
Irgendwann sank ich dann in einen unruhigen Schlaf.
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Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)
FanfictionMein Leben bei meiner schrecklichen Familie war nicht länger auszuhalten, also bin ich abgehauen, mitten in der Nacht, ohne Ziel und nur mit dem Wunsch, woanders von vorne anzufangen. Dass ich dadurch meine Bestimmung, meine Zukunft und einen echten...