Meine Chance kam noch am selben Abend, kurz nach dem Essen. Ich sollte den Geschirrspüler einräumen, die Küche sauber schrubben und das Esszimmer wieder in Ordnung bringen, während meine Eltern im Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen und Champagner tranken. Aber ich dachte ja nicht einmal daran, diese Aufgaben zu erfüllen!
Noch hatte ich freien Zugang in den unteren Stockwerken, aber sobald ich für die Nacht in meinem Zimmer eingesperrt wurde, war es zu spät. Ich musste meine Zeit gut nutzen und ich hatte auch schon ein Ziel: Das Fenster in der Küche. Es zeigte zur Front des Hauses, das hieß ich war bestenfalls innerhalb von Sekunden auf der Straße. Außerdem konnte meine Familie mich dann vom Wohnzimmer aus nicht fliehen sehen, was mir mit etwas Glück einen großen Vorsprung verschaffte. Aber vor allem lag die Küche im Erdgeschoss. Ich brauchte nur nach draußen zu schlüpfen und musste nicht klettern, eine Sache, die mir dank meiner Höhenangst den ersten Versuch verdorben hatte. Damals war ich überstürzt vom Balkon meines Bruders gestartet, als ich gerade seine Dreckwäsche aufsammeln sollte und er kurz ins Bad verschwunden war. Doch bereits nach einem Blick nach unten war alles zu spät gewesen, ich hatte mich nur noch am Fallrohr der Regenrinne festklammern können und war Minuten später entdeckt und wieder ins Haus gezerrt worden.
Diesen Fehler machte ich nicht nochmal. Ich wollte überlegter vorgehen und keine unnötigen Risiken provozieren. Und ich wollte sichergehen, dass ich da draußen in Freiheit eine Zukunft hatte. Auf jeden Fall musste ich in eine andere Stadt fliehen, möglichst weit weg wo mich niemand erkennen würde. Geld brauchte ich auch, solange bis ich irgendwo Arbeit und ein neues Zuhause fand. Das war allerdings das leichteste auf meiner Liste, Mutter ließ ihr Portemonnaie häufig unbeaufsichtigt herumliegen. Ich musste es nur kurz vor meiner Flucht aus dem Flur schnappen und mit etwas Glück bemerkte niemand etwas.
Das größere Problem entdeckte ich, als ich mich am Fenster zu schaffen machte. Es ließ sich anlehnen, aber nicht komplett öffnen. Egal wie oft ich am Riegel rüttelte in der Hoffnung, es hätte ich nur etwas verklemmt. Verdammt! Das musste erst vor kurzem gemacht worden sein, ich erinnerte mich ganz klar daran, das Fenster schon mehrmals zum Lüften weit aufgerissen zu haben. Was nun? Durch diesen schmalen Spalt konnte ich mich niemals quetschen, obwohl ich schmal und nur sehr klein war. Mit einem dumpfen Gefühl in meinem Magen stolperte ich rückwärts, bis ich Halt an der Spüle fand. Was sollte ich tun, was sollte ich-?
„Marcus! Was ist los, faulenzt du etwa? Räum endlich den Tisch ab! Das Geschirr wäscht sich nicht von allein!"
Der wütende Klang ihrer Stimme ließ mich zusammenschrecken, obwohl sie mehrere Räume von mir entfernt war. Instinktiv rannte ich los, schlitterte um die Ecke ins Esszimmer, stapelte so viele Sachen auf meine Arme wie ich mir zutraute und brachte sie schnell in die Küche, um weiteren Ärger zu vermeiden. Wie kam ich hier raus? Wie nur, wie?
Mein Blick fiel auf den massiven Kochtopf, den ich gerade in die Spülmaschine einräumen wollte. Dann sah ich zum Fenster. Ob das klappen würde...? Meiner spontanen Idee folgend stellte ich den Topf erst einmal beiseite, sortierte den Rest meiner ersten Fuhre ein und warf nochmal einen vorsichtigen Blick in Richtung Freiheit. So dick war das Glas nicht, oder? Es würde furchtbar laut werden und meine Eltern sofort auf den Plan rufen, aber es war im Moment meine einzige Chance!
Beim zweiten Gang ins Esszimmer und zurück in die Küche ließ ich unbemerkt Mutters rotes Spitzenportemonnaie in meine Hosentasche gleiten. Ab jetzt wurde es ernst. Ich konnte gut erklären, warum ein Topf noch unangerührt auf der Anrichte stand; Wieso ich versuchte Geld zu stehlen, konnte ich hier aber niemandem glaubwürdig erzählen. Es war besiegelt! Mit einem Anflug an verzweifelter Entschlossenheit schnappte ich mein schweres Hilfsmittel bei den Henkeln, schleppte es zum Fenster, schloss meine Augen und wuchtete den Topf mit viel Schwung gegen das Glas.
Es knirschte fürchterlich. Dann splitterte es. Beinahe ließ ich los als ich spürte, wie die Scherben auf meine Hände prasselten und spürbar winzige Schnitte in meine Haut rissen. Erst als sich vor mir nichts mehr rührte, traute ich mich wieder zu blinzeln und ich staunte nicht schlecht. Es klaffte wirklich ein Loch vor mir und groß genug für mich war es auch, wenn ich mich geschickt anstellte! Ich konnte hier raus! Aber meine Freude hielt nur kurze Zeit an: „Was war das? Marcus? Marcus, was hast du jetzt wieder dummes angestellt!?"
„Jetzt ist der Junge zu weit gegangen. Hast du gehört Marcus, ich schlage dich windelweich wenn du noch etwas zerbrochen hast!"
Oh nein! Sie waren bereits auf dem Weg hierher, ich hörte ihre Schritte auf dem gefliesten Boden! Ohne einen weiteren Gedanken an die scharfen Scherbenkanten zu verschwenden stieg ich mit den Füßen voran aus dem Fenster, drehte mich um und hangelte meinen Oberkörper hinterher. Meine Angst betäubte alle anderen Gefühle. Wenn sie mich auch nur am Arm erwischten, war es vorbei für mich. Dann konnten sie mich lange genug festhalten, um mich an der Flucht zu hindern. Aber ich hatte Glück, landete mit beiden Füßen auf dem kurz getrimmten Rasen und war schon losgerannt, als ich die Tür zur Küche hinter mir aufschlagen hörte. Es hatte geklappt! Jetzt musste ich nur noch rennen, so schnell wie möglich und so weit, dass sie mich nicht einholen konnten. Danach war ich frei! Endlich keine Schläge mehr und keine Strafen!
Die ersten Minuten lief ich die Straßen entlang, raus aus dem wohlhabenden Teil der Stadt, bis mir einfiel, dass meine Eltern mit Sicherheit ihr Auto nehmen würden, um nach mir zu suchen. Hier war ich leicht zu sehen und noch leichter aufzuhalten. Ich bremste, schaute mich panisch um und bog dann ab in einen nahen Park. Dahin konnten sie mir mit einem Auto nicht folgen. Aber sicher war ich hier auch noch nicht, wohin konnte ich jetzt gehen?
Mittlerweile wurde es dunkel und ich konnte meine Umgebung nur noch mit Mühe erkennen. Dazu kam, dass ich den Park nicht gut kannte. Wo kam ich hin, wenn ich dem Kiesweg weiter folgte? Ich wusste es nicht. Aber als ich in der Ferne einen Automotor hörte, dachte ich nicht weiter nach. Egal wo er mich hinführte, es würde ein besserer Ort sein als mein Elternhaus.
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Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)
FanfictionMein Leben bei meiner schrecklichen Familie war nicht länger auszuhalten, also bin ich abgehauen, mitten in der Nacht, ohne Ziel und nur mit dem Wunsch, woanders von vorne anzufangen. Dass ich dadurch meine Bestimmung, meine Zukunft und einen echten...