23.

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Am nächsten Morgen wusste ich kurzzeitig nicht wo ich war. Es roch nach Tieren, viel zu stark als dass ich im Haupthaus sein konnte. Und ich spürte regelmäßige Luftstöße in meinem Nacken, was mich noch mehr irritierte. Blinzelnd wegen der Helligkeit schaute ich mich um und sah, dass ich mich in einer Box im Stall befand, die bis auf eine unordentlich zusammengeknüllte Decke in der Mitte leer war.

Neben mir spürte ich, wie sich etwas bewegte. Der leichte Druck auf meiner Schulter nahm zu, der warme Luftstrom am Hals versiegte. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf in diese Richtung.

Es war Tim, der noch selig schlief und mich während seiner Träume an sich gedrückt hatte. Ein Arm ruhte an meiner Hüfte, seinen Kopf hatte er in meine Halsbeuge gekuschelt.

Dann fiel mir schlagartig auch wieder ein, warum wir hier saßen und nicht in unseren Betten lagen: Cora, ihre Ferkel, ihr Tod, unsere Bemühungen um ihren Nachwuchs zu retten und zum Schluss die Wahrheit über Tims Leben. Als wäre der gestrige Abend in Wirklichkeit eine ganze Woche lang gewesen.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich unter der Decke vor uns etwas zu bewegen begann, dann schob sich auch schon die erste winzige Schweinenase an die frische Luft und schnupperte. Es war sicherlich hungrig und wie zur Bestätigung fiepte das Ferkelchen im nächsten Augenblick auch schon leise. Das Geräusch weckte die Schlafmütze neben mir. "Hm? Stegi?", murmelte er müde, richtete sich auf und gähnte, ehe er sich ebenso verwirrt umschaute wie ich vorhin. Sein Blick wanderte zuerst zu mir, wie ich ihn skeptisch beobachtete. "Oh... ich, ähm, ich wollte dir nicht so nahe kommen", fing er an, widmete seine Aufmerksamkeit aber sofort der rosa Nase, als sie wieder fiepte und quengelnd nach Milch suchte. Danach dauerte es auch nicht lange, bis von überall aus dem Haufen die verlangenden Stimmchen heraus drangen.

Während wir die Kleinen nacheinander wieder mit unseren Stoffenden und der restlichen Kuhmilch fütterten, beugte sich Tim zu mir herüber: "Wenn du möchtest, kannst du ihnen Namen geben. Fallen dir spontan welche ein?"

Überrascht schaute ich die niedlichen Ferkel vor mir an. Wirklich, ich durfte sie benennen, einfach so? "Machen wir halbe-halbe, okay?", schlug ich vor und schob das fünfte Schweinchen noch versöhnlich auf Tims Seite. Er grinste. "Och manno, ich hab ja lauter Mädchen bei mir sitzen. Ich bin total unkreativ mit Frauennamen", meckerte er, zwinkerte aber gleich darauf, damit ich ihn nicht allzu erst nahm.

"Hmm, das Erste nenne ich Doro", fing er an, zeigte auf das Kleine, das er gerade in den Händen hielt und übergab den imaginären Staffelstab an mich. "Dann heißt meiner hier Sveni!"

"Luzie."
"Hannes."
"Miriam."
"Denny."
"Nelli."
"Charlotte."

"Und das letzte heißt Selma! ...ne, Moment mal, das ist ja ein Herr! Stegi, guck mal bitte ob du nur zwei Jungs bei dir sitzen hast!"

Verdutzt hob ich meine drei Männer hoch und tatsächlich, Hannes war gar kein Hannes! "Uhh, dann müssen wir die junge Dame nochmal umbenennen", gab ich peinlich gerührt zu, "wie wärs mit Hanni? Wie von Hanni und Nanni?"

"Hanni und Nanni? Hab ich noch nie gehört. Ich wär eher für Honey, also wie Honig!", glänzte Tim mit seinen wenigen Brocken Englisch. Ich lächelte breit. "Okay, dann heißt sie Honig."

"Und Selma nenne ich um in... ich habs, du heißt ab jetzt Markus!"

Erschrocken zuckte ich zusammen. Markus quiekte im selben Augenblick und Tim gluckste: "Schau mal, ihm gefällt sein neuer Name! Also: Doro, Sveni, Luzie, Honey, Miriam, äh... genau, Denny, Nelli, Charl..."

Er unterbrach die Aufzählung, als er mich so steif und entsetzt dasitzen sah. "Stimmt etwas nicht?", fragte er besorgt, verstört wandte ich ihm mein Gesicht zu, sagte aber nichts.

"Hey Stegi, sag schon, was ist los, fühlst du dich nicht gut?", bohrte er nach. Ich schüttelte den Kopf, sprang auf, murmelte was von frischer Luft und rannte aus der Box. Marcus. Ich hatte gehofft, meinen echten Namen nie wieder hören zu müssen aus Angst davor, sofort entlarvt und zu meinen Eltern zurückgeschickt zu werden. So lange Zeit war alles gut gegangen, niemand aus meiner Familie hatte sich nach mir erkundigt, Molly hatte mich nie auf eine Vermisstenmeldung angesprochen und auch sonst hatte ich mich nicht nochmal in meiner Geschichte verplappert oder anders verraten. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, bekam ein kleines, unschuldiges Ferkelchen meinen Geburtsnamen wie einen Stempel aufgedrückt. Er war das kleinste der neun gewesen, hatte zwei auffällige dunklere Flecken genau über den Augen und erinnerte an ein kleines Schoßhündchen. Ihn hatte ich gestern noch angestupst, weil er sich nicht mehr hatte rühren wollen. Vielleicht wäre es mein neues Lieblingsschwein geworden, wenn es doch nur ein Weibchen gewesen wäre! Oder wenn Tim sich anders entschieden hätte, oder...-

"Stegi? Gehts dir wieder besser?"

Krampfhaft lächelnd drehte ich mich zu ihm um. "Ja, alles wieder gut!", behauptete ich so heiter wie möglich. Er schien nicht ganz überzeugt. "Die Hühner, ich lass noch schnell die Hühner aus ihrem Verschlag!", lenkte ich ab und zwang mich, nicht sofort loszustürmen um so viel Anstand wie nur möglich zwischen mich und den Stall zu bringen. Dabei hätte alles so gut sein können, wie es war.

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