34.

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POV Tim

Stegi hatte sich die letzten Tage so sehr angestrengt, um alles während meiner Abwesenheit instand zu halten. Da hatte er sich jetzt nach der vielen Arbeit, seinem Schrecken und der Überwindung seiner Angst eine gründliche Ruhepause verdient! Momentan war er auf unserem Zimmer und schlief, jedenfalls hatte ich es so angeordnet. Der Ärmste hatte sich kaum noch alleine vorwärts schleppen können, also hatte ich ihn bis ans Bett getragen. Danach war ich zurück in den Stall gegangen, um zu erledigen, was es noch zu erledigen gab. Und das war leider nach zwei Wochen ohne die Routine wieder sehr viel auf einmal für mich.

Trotzdem, sehr viel besser, als zum Nichtstun verdammt in einem weißen zwanzig Quadratmeter großen Zimmer zu liegen und die Decke anzustarren. Zwar hatte es dort einen Fernseher gegeben, etwas, dass ich so zuvor nur im Internet auf meinem antiken Computer im Stall gesehen hatte, aber ich verstand die Begeisterung nicht, die andere Menschen dafür aufbrachten. Ich hatte kaum etwas verstanden, weil die eine Hälfte der Sender nur Talkshows und politische Themen ausstrahlte, die andere Hälfte Kinderkram und Zeichentricksachen. Nichts für mich. Einen Tiersender hatte ich gefunden, aber auch ausgeschaltet, weil die Leute, die dort über das Verhalten von Haushunden philosophierten, offensichtlich keine Ahnung von dem hatten, was sie da taten. Obwohl die Moderatoren immer wieder betonten, ähnliche Fälle bereits zuhauf gesehen zu haben und dass das angeordnete Training den kleinen Racker im Nullkommanichts in einen liebenswürdigen Schmuseteddy verwandeln würde. Seltsame Sachen, die andere Menschen sich so ansahen, wenn sie nichts zu tun hatten.

Eine gravierende Sache war aber doch noch passiert. In der ersten Woche hatte ein Junge mit mir im Zimmer gelegen, den ich erst nicht weiter beachtet hatte, bis er irgendwann zu reden anfing. Tobi hieß er, war sechs Jahre alt und eine ziemliche Labertasche. Aber trotzdem war er nett gewesen und hatte mir einen Großteil der Zeit die Langeweile vertrieben. Es wäre auch nicht weiter erwähnenswert für mich, wenn ich nicht nach den paar Tagen bei dem Wiedersehen mit seiner Mutter dabei gewesen wäre.

Sie war alt geworden, möglicherweise hatten ihre Schuldgefühle die Zeit für sie doppelt so schnell wie gewöhnlich vorangetrieben. Und doch, ich erkannte sie wieder. Meine Mutter. Meine leibliche, biologische Mutter, die schlussfolgernd meinen Halbbruder aus dem Krankenhaus abholte. Hatte ich sie schon nicht auf Anhieb erkannt, so hatte diese Aufgabe meine Rückennarbe für mich übernommen und fürchterlich zu kribbeln angefangen, als sie unser Zimmer betrat. Mit der gleichen Bewegung wie früher strich sie sich ihre halblangen Haare aus der Stirn, die meinen zum Verwechseln ähnlich aussahen und drückte Tobi jeweils einen Kuss auf die Wangen. "Gehts dir wieder besser mein Schatz? Ich habe mit dem Fußballtrainer geredet und er meinte, dass es Rafael furchtbar leid tut und er dich vermisst. Versprich mir bitte, dass ihr in Zukunft nicht mehr so wild herumtollt, okay?"

"Ja Mama!", hatte Tobi geantwortet, den noch eingegipsten Arm unter der Decke hervor manövriert und war aufgestanden, ehe er mir zum Abschied winkte. "Tschüssi Tim!"

Zum ersten Mal hatte mir meine Mutter erschrocken Beachtung geschenkt, ich hatte sie noch immer fassungslos zurück angestarrt. Dann war ihr Mann hinter ihr eingetreten, hatte Tobi in die Arme genommen und ihn einmal, bedacht auf den Verband, im Kreis gewirbelt. "Hey Sportsfreund, wie gehts dir?"

Ich war mir sicher, dass sie mich erkannt hatte. Oder sich zumindest fragte, ob und wenn ja, wie das möglich sein konnte. Die Unterbrechung kam ihr sehr gelegen, schnell drängte sie ihre Familie nach draußen in den Flur und warf hinter sich die Tür zu.

Aber das sollte nicht unser letztes Treffen sein, das hatte ich mir geschworen. Zögernd ertastete ich den Zettel in meiner Hosentasche. Auf ihm standen Adresse und sicherheitshalber auch die Telefonnummer der drei, nachdem ich eine Schwester davon überzeugen konnte, dass ich mich mit Tobi angefreundet und beim Abschied schlichtweg vergessen hatte, Kontaktdaten mit ihm zu wechseln. Nein, Tobi war für mich kein Freund. Er hatte das, was ich mir von unserer gemeinsamen Mutter immer gewünscht und das sie mir nicht gegeben hatte. Doch genauso wenig war ich neidisch, hasserfüllt oder auf Rache aus. Ich hatte ja Molly, die sich um mich gekümmert hatte und mir noch immer bei allem zur Seite stand, wenn ich sie um Unterstützung oder Rat fragte. Ich war bloß neugierig. Wusste mein Stiefvater noch, wer ich war? Denn er war es gewesen, der Mann der meine Mutter verlassen hatte nachdem herausgekommen war, dass sie ihn betrogen hatte. Jetzt waren sie wieder zusammen und hatten Tobi bekommen. Ich wollte das nicht noch einmal zerstören, das hatte mein Halbbruder nicht verdient. Aber diese Frau sollte wissen, wie ich überlebt hatte. Schon wieder, zum zweiten Mal nachdem sie versucht hatte, mich wie einen weniger schwerwiegenden Fehler aus ihrem Leben zu streichen.

Vielleicht konnte ich sie sogar um ein wenig Geld bitten und Molly und Stegi davon eines Tages etwas für alles zurückgeben, das sie mir geschenkt hatten. Was genau wusste ich noch nicht, aber dafür war an anderer Stelle genug Zeit zum Überlegen übrig. Jetzt wollte ich mich zuallererst darauf konzentrieren, mein Leben und meine Freundschaft mit Stegi wieder in Ordnung zu bringen!

Plötzlich wurde mir etwas bewusst, das ich zuvor nur kurz gedanklich gestreift hatte. Bisher hatte ich jeden Tag beim Anblick meiner Narbe geglaubt, das Leben von drei Menschen für immer ruiniert zu haben. Das war über lange Jahre hinweg meine feste Überzeugung gewesen, ich war ein Bastard, ein Fehler in ihren Planungen und hatte ihnen alles genommen. Meinen biologischen Vater kannte ich nicht und konnte deswegen nichts über ihn sagen, doch mein Stiefvater schien meiner Mutter mittlerweile ja verziehen zu haben! Sie waren wieder glücklich zusammen, sogar so sehr, dass sie jetzt zusammen ihren Sohn Tobi hatten. Das waren zwei riesige Lasten weniger, die ich zu tragen hatte! Ihre Leben gingen weiter und das weitaus schöner, als ich es mir so oft vorgestellt hatte!

Voller Enthusiasmus konzentrierte ich mich wieder auf meine Arbeit vor mir und melkte an diesem Nachmittag so tatkräftig wie noch nie zuvor.

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