29.

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Weinend sank ich in der ehemaligen Box von Cora zusammen und umklammerte meine Beine, die noch immer zitterten vor Angst. Ich hatte mich so sehr getäuscht in Tim, dass es dafür keine Worte mehr gab, die ausdrucksstark genug für meine Gefühle waren. War ich denn wirklich so blind? Für nett hatte ich ihn gehalten, verständnisvoll, fürsorglich; und dann tat er sowas? Das passte einfach nicht! Es wollte nicht in meinen Kopf hinein! Dabei hatte ich mir sogar einmal gewünscht, dass wir Brüder wären...

Die Abwesenheit meines ehemaligen Vertrauenstieres war unglaublich belastend für mich, gerade jetzt wieder, wo ich sie so sehr gebraucht hätte. Zu ihr hatte ich mich geflüchtet, wenn Tim wieder einen schlechten Tag gehabt hatte. Und manchmal auch nach dem Reiten, wenn ich völlig fertig, aber rundrum glücklich gewesen war. Sie hatte mir echt viel bedeutet und jetzt hatte ich niemanden mehr. Ob ich hier überhaupt noch willkommen war, vor allem nach der Aktion eben? Hatte der Junge wirklich erwartet, dass ich mir das gefallen lassen würde und mich von ihm misshandeln ließ? Das würde jedenfalls nicht passieren! So viel Ehre und Selbstwertgefühl hatte ich dann doch noch. Aber das bedeutete auch, dass ich morgen weiterziehen und mein Glück woanders probieren musste. Wenn ich hierblieb, würde sowas wie eben bald wieder passieren. So schwer es mir fallen würde, Molly, Misty, Emma und den anderen allen Auf Wiedersehen zu sagen, ich würde etwas anderes finden. Irgendwann, irgendwo. Aber nicht mehr heute Nacht. Morgen, ganz früh Morgen wollte ich aufbrechen und bis dahin versuchen, noch ein wenig Schlaf zu finden. Zwar war das hier mein Zuhause, das beste Zuhause dass ich je gehabt hatte, aber irgendwie schien ich die Dinge, die ich ins Herz geschlossen hatte, immer sehr schnell wieder zu verlieren...

Ein letztes Mal rappelte ich mich auf, ging zu den Ferkeln, fütterte sie alle nochmals, streichelte ihnen über die kleinen Köpfchen und schloss mich dann in Mistys Box ein. Sie sah müde und verwundert über meinen nächtlichen Besuch auf, stieß sacht Luft aus ihren Nüstern und stupste mich mit der Schnauze in den Bauch. Ich lächelte schmal, tätschelte ihr die Flanke und kraulte ihr Kinn, ehe ich mich in einer Ecke zusammenrollte und die Augen schloss. Morgen würde ich sie zuletzt sehen, ehe ich ging. Das war schon in Ordnung so. Zu ihr hatte ich nach Cora am meisten Vertrauen gefasst. Und so gerne ich sie mit mir nehmen würde, durfte ich das nicht und außerdem war dort wo ich hinging bestimmt kein Platz für ein Pferd.

Das waren meine Gedanken, bevor ich wegdämmerte, mit vor Nässe leicht brennenden Augen und dem Geruch von Stroh, Heu und Mistys Fell in meiner Nase.


Als ich wieder aufwachte, ging draußen scheinbar gerade die Sonne auf. Der ganze Stall war in ein orange-rotes Licht getaucht, die Stute stand ganz still mit angehobener Hinterhand da, die Augen halb geschlossen. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, stand ich auf, streckte mich kurz, um die Kälte und die Steifheit in meinem Körper loszuwerden, öffnete die Box und stolperte beinahe über etwas, das ausgestreckt mit dem Rücken zu mir vor dem Eingang lag. Ich bekam einen Schreck. Es war Tim, barfuß, die Arme um den Körper geschlungen, mit nichts außer einem Shirt und seiner kurzen Schlafhose an. Der Luftzug der Tür fröstelte ihn, er bekam eine Gänsehaut. Aber noch immer atmete er tief wie im Schlaf und das sollte besser auch so bleiben, bis ich verschwunden war. Vorsichtig und mit angehaltenem Atem stieg ich über ihn hinweg, zog die Box hinter mir leise wieder zu und wollte gerade gehen, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie er seinen Kopf hob.

"Stegi?", brachte er mit kränklicher, brüchiger Stimme hervor. Kurz blieb ich wie angewurzelt stehen, dann siegte meine Wut auf ihn über meine Angst und ich ballte meine Hände zu Fäusten. "Was?", wollte ich abweisend wissen und sah über meine Schulter, wie er sich frierend ein Stück aufrichtete. Seine langen Haare hingen ihm in ungekämmten, verfilzten Strähnen vom Kopf und er sah wirklich nicht gesund aus. Hatte er die ganze Nacht so dagelegen? Ach was, das war ein lächerlicher Gedanke! Er wollte nur, dass ich Mitleid mit ihm bekam, aber das hatte ich nicht!

"Ich wollte mich für-, für gestern Abend entschuldigen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist!", gestand er hustend und zähneklappernd. "Tja, wenn du es nicht weißt", antwortete ich sauer. Er lenkte mich ab, ich hätte ihn einfach ignorieren und gehen sollen!

Doch ich kam wieder nicht weit, dieses Mal weil sich eine eiskalte Hand um meinen Hemdärmel klammerte.

"Bitte sag mir nicht, dass du gehen willst! Wir- Ich brauche dich! Gib mir die Chance, meinen Ausrutscher wieder gutzumachen, ich flehe dich an Stegi!"

"Du hast gestern auch nicht auf mich gehört! Warum soll ich auf dich hören? Und jetzt lass mich los, sofort!"

Als hätte er sich verbrannt zog Tim seinen Arm zurück, unterdrückt schluchzend, ein Anblick des Elends. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich jetzt vielleicht wirklich Mitleid mit ihm bekommen.

Trotz meiner Worte folgte er mir, langsam, zitternd, aber ich beachtete ihn kaum, bis ich hinter mir plötzlich einen lauten Schlag und daraufhin erschrockenes Wiehern hörte. Blitzschnell drehte ich mich um und sah Tim noch das letzte Stück an eine Box gelehnt zu Boden rutschen, bis er eingesunken und mit geschlossenen Augen sitzen blieb, während der Rappe, Kyle glaube ich, auf der anderen Seite des Holzes keine Ruhe gab und immer mehr Tiere im Stall mit seiner Panik ansteckte. Mehrmals stieg er, wirbelte dabei mit seinen Vorderhufen und peitschte seine Mähne durch die Luft. Und obwohl alles in mir vor Sorge um Tim schrie, wagte ich mich nicht, zu ihm zurück zu gehen. Das konnte ein Trick sein. Was wenn er seine Schwäche nur vortäuschte um mich zu schnappen und festzuhalten, sobald ich ihm zu nahe kam? Nervös und von Gefühlen zerrissen schaute ich zum Stalleingang und dann wieder zu dem Jungen.

Da bemerkte ich erst die dünne Blutspur, die sich an seiner Schläfe hinab einen Weg bis zu seinem Kinn bahnte. Oh Gott...! Er reagierte auch nicht mehr, als ich seinen Namen rief und schließlich doch zu ihm rannte, um ihn an seinen Schultern zu rütteln. Er glühte, sein ganzer Körper strahlte eine unnatürliche Wärme aus, nur seine Hände waren noch immer so kalt wie Eiswasser. Fieber! Tim hatte hohes Fieber, dann hatte er das alles gar nicht gespielt, sondern ihm ging es tatsächlich so dreckig! Wie blöd war ich nur gewesen, um das nicht zu bemerken?!

Vor Angst bebend hielt ich ihm meinen Handrücken vor den Mund und spürte nach kurzer Zeit seinen flachen, regelmäßigen Atem. Zum Glück! Trotz der letzten Nacht hätte ich ihm das hier niemals gewünscht und ich war echt froh, dass er gerade nur ohnmächtig war und nicht noch schlimmeres.

"Tim? Stegi? Seid ihr zwei hier? Was ist los, ist etwas passiert?"

"Molly! Du musst sofort einen Notarzt anrufen, Tim ist ohnmächtig und hat sich den Kopf angeschlagen!", rief ich ihr mit schriller Stimme entgegen und hörte sie hastig näherkommen. Als sie ihren Ziehsohn so daliegen sah, das Gesicht aschfahl und vollkommen reglos, schien sie selber einem Herzinfarkt nicht mehr fern. Entsetzt schlug sie sich ihre Hände von den Mund, dann half sie mir, ihn zu stützen um ihn wenigstens in eine Wolldecke einzuhüllen, damit er nicht noch weiter auskühlte. Darüber, warum er nur mit Unterwäsche bekleidet war, stellte sie jetzt zum Glück noch keine Fragen.

Nachdem wir Tim soweit versorgt hatten, spurtete Molly zurück zum Haupthaus, um einen Krankenwagen anzurufen, während ich bei ihm blieb und nachdachte, wie es zu allem gekommen war. Warum war er soweit gegangen, um mich vom Gehen abzubringen? Er hatte im vollen Bewusstsein seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt, nur um mir zu zeigen, dass es ihm leid tat? Hatte er wieder einen Sinneswandel gehabt, war er jetzt wieder normal?

Einem spontanen Impuls folgend beugte ich mich zu Tim vor und roch vorsichtig an seinem Mund und seinen Haaren. Der chemische Geruch von gestern war verschwunden. War er vielleicht doch alkoholisiert gewesen, bloß mit anderem Zeug als mein Vater? Hmm... Ich erinnerte mich, diesen beißenden Gestank irgendwann schon einmal gerochen zu haben. Aber dummerweise wusste ich weder wo, noch hatte ich diesem Detail gestern genug Aufmerksamkeit geschenkt, um es jetzt im Nachhinein sicher identifizieren zu können...

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