14.

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Mein Herz setzte einen Schlag aus und vor Schreck stieß ich beinahe die Schnitzereien vom Fensterbrett. Keuchend wirbelte ich herum und presste mir eine Hand auf die Brust. "Gott, Tim, hast du mich erschreckt!"

Mein nächster Impuls war es, die Holzfiguren hastig wieder so hinzustellen, wie ich sie vorgefunden hatte. "Tut mir leid, dass ich mich an deinem Eigentum vergriffen habe", entschuldigte ich mich dabei mehrmals über meine Schulter und merkte nicht, dass Tim über die Schwelle getreten war und näher kam. Erst dann, als er meine Unterarme umfasste und mit sachtem, aber bestimmtem Druck nach unten führte. "Lass, das ist schon in Ordnung. Du musst dich nicht ständig entschuldigen. Das ist doch jetzt auch dein Zimmer und es wäre schade, wenn die Sachen hier bloß herumstehen und einstauben."

Vorsichtig fuhr er mit seinen Fingern nach vorne zu meinem Handgelenk, wo mein Puls wegen seines plötzlichen Auftauchens noch immer verrückt spielte.

Abrupt ließ er mich los und entfernte sich eilig einen Schritt von mir. "Wollen wir lieber Abendessen?", fragte er schnell und verdattert nickte ich. Was war das denn gewesen? Einen Moment zögerte ich noch und überlegte, aber dann verwarf ich den seltsamen Moment zwischen uns beiden und folgte Tim hastig nach unten.

Molly saß bereits unten und legte Wäsche zusammen, stellte den Korb aber beiseite, als wir uns nebeneinander auf die Bank ihr gegenüber fallen ließen. "Achja, alle Hühner waren noch vollständig!", berichtete ich stolz, während Tims Mutter zuerst ihm und dann mir großzügig Kartoffeln und Soße auf unsere Teller schaufelte. Mein Sitznachbar lief blassrosa an. Er nuschelte ihr etwas zu, das sich nach "Musst du doch nicht" anhörte, begann dann aber sofort zuzuschlagen, sobald er seine Portion erhielt. Ich bemerkte ebenfalls wie hungrig ich trotz des leckeren Mittagessens mittlerweile wieder geworden war und tat es Tim gleich, allerdings ein wenig zögerlicher. "Achja, als ich bei euch angekommen war, hatte ich gesehen, dass ein Brett am Zaun um die Hühner durchgebrochen ist. Soll ich mich da morgen drum kümmern?", bot ich an.

"Lass das ruhig Tim machen, der ist damit im Nu fertig. Aber du könntest mir den Gefallen tun und das Gras rings ums Haus sensen. Natürlich nur wenn du dir das zutraust und dich nicht dabei verletzt." Ohne zu zögern versprach ich Molly, die Aufgabe morgen zu übernehmen. Wenn sie meinte, ich könne mich so nützlich machen, wollte ich sie auf keinen Fall enttäuschen! Nur Tim sah etwas unsicher aus: „Hast du denn schonmal eine Sense benutzt?"

„Nein, aber das kriege ich hin!", antwortete ich voller Optimismus und das schien ihm für den Moment zu reichen. Es war die perfekte Gelegenheit für mich, um den beiden etwas für ihre Hilfsbereitschaft heute zurück zu geben!

Als wir unsere Teller dann so weit geleert hatten, dass sie wie sauber geleckt aussahen, wünschten wir Molly eine gute Nacht und gingen nach oben. Ich war pappsatt und rundum zufrieden. Hier wollte ich am liebsten ewig bleiben. Die Freiheit umströmte einen so sehr, dass sie beinahe greifbar schien. Zufrieden ließ ich mich auf die Matratze sinken und lauschte nach Tim, der als erster ins Bad gegangen war und sich jetzt vermutlich die Zähne putzte. Ich sollte mich langsam auch bettfertig machen, wir würden morgen sicher sehr früh aufstehen, damit alle Tiere rechtzeitig versorgt werden konnten.

Gähnend zog ich meine Klamotten bis auf die Boxershorts aus und sah das erste Mal seit meiner Flucht von Zuhause, wie dreckig mein teures Hemd auf dem Weg geworden war. Gras, Erde, Schweiß und Pferdehaare hatten ihre Spuren hinterlassen, dabei war der Stoff mal so weiß wie frische Schneeflocken gewesen. Und die Jeanshose, die mir schon immer ein Stück zu groß war, sah nicht gerade besser aus. Meine Eltern hätten mich längst umgebracht, wenn sie das sehen könnten. Aber dafür passte meine Kleidung jetzt hierher, jedenfalls besser als die gebügelten, piekfeinen Klamotten meiner Familie. Zufrieden legte ich die Sachen ordentlich auf einen Haufen am Fuß meines Nachtlagers und besah mir als nächstes die Auswahl an Bettdecken und Kissen, die Molly mir zusammengesucht hatte. Sie hatte untertrieben als sie sagte, sie hätte bloß die Matratze und eine Decke und für mich aufgetrieben. Es war ein riesiges Sammelsurium an weichen Gegenständen und Kissen, wie sollte ich mich da jemals entscheiden können? Gerade grub ich mich kopfüber durch den Berg, als ich Tim rufen hörte: "Nicht erschrecken Stegi, ich bin jetzt fertig! Möchtest du gleich auch ins B..."

Er stockte und verstummte. Fragend drehte ich mich um und sah ihn in der Tür stehen, mit offenen, zerzausten Haaren, einem Shirt und kurzen Hosen an. Sein unsicherer Blick ruhte auf mir, dabei biss er sich auf die Unterlippe und holte scharf Luft. Dann blinzelte er und wandte sich schnell ab. "Sorry, Bad ist frei", erklärte er knapp und ein wenig abweisend. Leicht verdattert verließ ich das Zimmer.

Auf dem Waschbecken standen in einem Becher bereits drei Zahnbürsten, die eine war noch verpackt und grinsend griff ich nach ihr. Ja, hier kümmerte man sich tatsächlich um mich. Während ich mir Zahncreme auftat und zu putzen anfing, schaute ich mich im Spiegel über den Wasserhähnen an. Ich sah müde aus. Seufzend fuhr ich mir über Wangen und Augen, strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und blieb dann mit meinem Blick ein wenig weiter unten hängen. Oh, ich glaubte jetzt zu wissen, warum Tim vorhin so komisch reagiert hatte. Ich war ja halbnackt! Er hatte wenigstens noch ein Shirt angehabt, vielleicht gehörte sich das in seiner Familie so. Es war wohl besser, wenn ich mir für die Nacht ebenfalls etwas überzog.

Ich stellte die Zahnbürste zurück, streckte mich noch einmal ausgiebig und tapste dann zurück zu Tims und meinem Raum.

"Sollte nicht ich auf der Matratze schlafen?", fragte ich verwirrt, weil Tim es sich bereits auf ihr gemütlich gemacht hatte und jetzt ein Stück neben mir in die Ferne guckte. "Nee nee, du bist neu hier, du kriegst das Bett. Das wird mir sowieso ein wenig zu klein." Sogar meinen Klamottenstapel hatte er bereits rüber geräumt. Dann konnte ich wohl kaum noch protestieren. "Dankeschön! Soll ich mir eigentlich auch was überziehen für die Nacht? Weil du ja auch-", aber er ließ mich nicht ausreden, zuckte mit den Schultern und schleppte sich nochmals zu seiner Lampe, um sie auszuschalten. "Wenn du nicht willst, musst du nicht. Ich hab meine Gründe." Damit ging das Licht aus und ich kroch hastig unter die Decke.

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