26.

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"Hey, du bist so still. Ist alles in Ordnung?"

Gezwungen lächelnd nickte ich ihm zu. Wir hatten die Uhr gut sichtbar an einen niedrig hängenden Ast gebunden, in der Hoffnung, dass bald ein ehrlicher Finder kommen und sie mitnehmen würde. Ich persönlich wollte nur, dass sie so schnell wie möglich verschwand und ich sie nie wieder sehen musste. Aber das konnte ich Tim ja schlecht sagen. Der Ausflug war plötzlich eine Quälerei und die Vorfreude zu einem schalen Gefühl abgeklungen. Das Schweigen zwischen uns zog sich immer länger und begann unangenehm zu werden. Doch jedes Wort und jeder Versuch zum Smalltalk hätte genauso gut das Pulverfass hochgehen lassen können.

Gerade wollte ich den Mund aufmachen, um wenigstens irgendwas loszuwerden, als der Wald sich ein Stück vor uns lichtete und den Blick auf einen kleinen Teich freigab. Das Wasser funkelte und ein paar Libellen kreisten träge über der vom Wind gekräuselten Oberfläche. An die schmalen Streifen flachen Wassers am Ufer schlossen sich nahtlos Schilfbewuchs und saftiges Gras an, die durch die leichten Wellen sanft mitschaukelten. Es war beinahe, als hätte der Ort etwas magisches an sich.

"Hier bin ich früher oft hingekommen, wenn mir die Arbeit über den Kopf gewachsen ist und ich wieder Zeit für mich brauchte. Aber das ist mittlerweile über ein Jahr her, Mutter wird leider nicht jünger und ich musste viele ihrer ehemaligen Aufgaben mit übernehmen. Ich hatte beinahe vergessen, wie schön und ruhig es hier ist..."

Tim schwang sich aus seinem Sattel, befestigte Rexis Zügel an einem Baum, sodass sie gemütlich grasen konnte und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, auf den Teich zu. Auch Misty begann nach den ersten Halmen zu schnappen und ich gab mich geschlagen. Sie machte halt doch was sie wollte. Ich band sie ebenfalls in der Nähe fest und folgte zögernd meinem Kumpel, der bereits völlig in Nostalgie versunken seine Reitstiefel ausgezogen und sich mit nackten Füßen und angewinkelten Beinen an den Rand gesetzt hatte. Seine Zehen spielten im seichten Wasser und wohlig gab er ein Seufzen von sich: "Es ist noch immer so angenehm wie damals."

Gemeinsam schauten wir den winzigen Wasserläufern zu, entdeckten eine Kröte auf der anderen Seite, eine Libelle setzte sich in meine Haare und flatterte wieder davon, als Tim sie auf seinen Finger locken wollte. Und plötzlich saßen wir wieder so nahe beieinander wie heute früh. Seine Wärme machte mich nervös und schnell schaute ich beiseite. Ich wollte Tim keine – in seinen Worten aus der ersten Nacht – falschen Hoffnungen machen und so tun, als wäre das auch mein Wunsch. Denn in Wahrheit fühlte ich mich unwohl. Meine Hände begannen zu schwitzen und mein Herz schlug schneller als normal. Sollte ich etwas sagen? Nur was? Also wartete ich bloß ab, was Tim tun würde.

"Darf ich... dein Gesicht anfassen?", fragte er leise und etwas in meinem Inneren zog sich zusammen, sodass mir das Atmen plötzlich schwerer fiel als zuvor. Ich wollte Nein sagen. Doch stattdessen spürte ich mich nicken, ohne zu wissen wieso. Es war klar, dass wir hier gerade eine wichtige Grenze überschritten, die wir danach nur schwer wieder ziehen konnten. Trotzdem korrigierte ich meine Antwort nicht und vorsichtig, ganz vorsichtig als könnte ich sonst zu Staub und Fantasie zerfallen, strich Tim mir mit seinen Fingerspitzen über meine Wange. Überall dort, wo er mich berührt hatte, prickelte meine Haut und das Engegefühl in meinem Hals nahm zu. W-was passierte gerade mit mir? Ich wollte das hier doch nicht! O-oder? Jetzt schaute ich meinem Nebenmann doch wieder ängstlich in die Augen und entdeckte in ihnen ein... unheimliches Verlangen. "Du bist wunderschön, weißt du das Stegi?", raunte er mir zu und beugte sich dann vor. Er wollte mich küssen. Kein Zweifel möglich. Und immer noch schaffte ich es nicht, mich abzuwenden oder meine Bedenken zu äußern. Ich konnte nur regungslos zusehen, wie seine Lippen meinen immer näher kamen, in wenigen Sekunden würden sie sie treffen und danach würde nichts mehr so sein wie davor.

Seine Hand wanderte zu meinem Nacken und uns konnten nur noch Millimeter voneinander trennen, als uns ein unerwartetes Geräusch unterbrach.

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