POV Tim
"Das hat angefangen, als die ersten Tiere gestorben sind, die ich sehr gemocht hatte. Ich bin nicht damit klargekommen, dass ich sie nicht retten konnte, auch dann wenn sie schlicht zu alt waren und es ganz sicher nicht meine Schuld war. Da war ich zwölf gewesen. Molly hat versucht, mir zu erklären, dass das auf einem Bauernhof auch passiert und das ganz normal ist, aber ich habe es nicht verstehen wollen. In... in der Zeit habe ich auch gelernt, wie man Sättel pflegt und habe dann einfach vergessen, das Fenster aufzumachen."
Darüber reden zu können fühlte sich gut an. Jetzt war es eh zu spät, warum dann noch etwas leugnen? „Das war der beste Tag seit langer Zeit für mich gewesen, ich war total weg und konnte einmal meine Schuldgefühle vergessen. Molly hatte auch nichts bemerkt und nach einiger Zeit... hab ich das regelmäßiger gemacht. Immer wenn ich mich schlecht gefühlt habe. Oder ich traurig war. Oder manchmal einfach so... Ich weiß, dass das nicht gut ist, aber ich brauche es. Ich habe versucht, davon wegzukommen. Es geht nicht."
Stegi seufzte. Aber es klang nicht vorwurfsvoll. „Warum heute?"
„Das weißt du", antwortete ich niedergeschlagen.
Der Kleine nickte nach einigem Zögern und brach unseren Blickkontakt. Hatte ich es doch gewusst. „Ich habe dich auch gehört, bevor es Abendessen gab. Da dachte ich, du hättest eine gespaltene Persönlichkeit, weil du dich geschlagen und mit dir selbst geredet hattest."
Erst begriff ich nicht, was er meinte, aber als es mir wieder einfiel, wurde mir heiß. Das hatte er gehört? Was hatte ich da alles gesagt? War mir dabei rausgerutscht, was ich noch immer für ihn empfand? Hoffentlich nicht! Aber Stegi erwähnte nichts weiter in die Richtung, also hatte ich wohl Schwein gehabt. Wenigstens ein Geheimnis war noch sicher... Und Selbstbefriedigung war zwar extrem peinlich, wenn man dabei erwischt wurde, aber kein Verbrechen. Ich stand gerade auf, um die Fenster der Sattelkammer wieder zu schließen, als Stegi sagte: „Du wolltest mich da küssen, aber hast dich zurückgehalten, richtig?"
Ich wirbelte ertappt herum. „Nein", antwortete ich so schnell, dass ich genauso gut hätte Ja sagen können. Nichts von wegen Geheimnis, Stegi wusste von allem. Es war vorbei. Er würde gehen und ich hatte eigenhändig alles kaputtgemacht!
Aber der Kleine ging nicht. Er verschränkte seine Finger ineinander, und druckste nervös herum. „Weißt du... Gestern hatte ich einen seltsamen Traum gehabt. Der war mir so peinlich gewesen, dass ich dir nicht geantwortet habe, als du meinen Namen gesagt hattest. Weil... in dem Traum haben wir uns geküsst und ich fand es doch gar nicht so schlimm."
Kurz flackerte Hoffnung in meinem Herzen auf. Er hatte... was? Aber ich bekam meine Gefühle schnell wieder in den Griff, stand auf und drehte Stegi mit verschränkten Armen den Rücken zu. Dachte er, es würde mir helfen, wenn er jetzt Notlügen für mich erfand? Wenn er mir falsche Versprechen machte und ich darauf einstieg, dann würde die Wahrheit noch so viel stärker wehtun! Ich hatte schon einmal gedacht, dass der Kleine nicht uninteressiert an mir war und das war in einer Katastrophe geendet! Daran war zwar auch mein benebeltes, unzurechnungsfähiges Ich Schuld, aber beschönigen tat das nichts. Stegi sollte sich ab jetzt besser fern von mir halten. Um unser beider Willen.
„Tim?" Seine besorgte Stimme zerbrach mich innerlich, ich musste meine Zähne zusammenbeißen und meine Fingernägel in den zu Fäusten geballten Händen vergraben, um kein verletztes Geräusch von mir zu geben. „Sag mir jetzt ein für allemal was du willst. Ich hab schon so viel verbockt, noch mehr halte ich nicht aus! Also?"
Ich spürte mehr als ich sah, dass Stegi neben mich getreten war und vorsichtig versuchte, mich zu umarmen. „Okay. Weißt du, als ich hier angekommen bin, hatte ich Angst vor Schwulen. Aber du hast mir gezeigt, dass ich keine Angst haben muss, wenn du du selbst bist. Dann fand ich es ekelhaft, einen Jungen zu küssen, aber nach dem Traum mit dir bin ich neugierig. Ich weiß nicht, ob ich schwul bin und dich liebe, aber es ist möglich und ich will es probieren! Wenn... Sollte es nicht so sein, dann bist du nicht Schuld, ja? Ich hab dich darum gebeten. Nicht du. Ich will das." Seine Hand schlüpfte in den Spalt zwischen meinem Arm und meinem Oberkörper und schaffte es, den Knoten vor meiner Brust zu lösen. „Wir kriegen das alles wieder hin, Molly und ich helfen dir dabei. Aber du musst mit uns reden und dir helfen lassen."
Die ganze Zeit hatte ich versucht, eine Fassade vor allen anderen aufrecht zu erhalten und meine Schwächen nicht zu zeigen. Wann immer ich am verletzlichsten war, hatte ich meine wahren Gefühle einfach mit Leichtherzigkeit oder auch Wut überspielt. Warum ich das tat, wusste ich nicht einmal mehr. Vermutlich aus Angst, vor den Folgen und vor mir selbst. Jetzt brach diese Fassade jedoch in sich zusammen und ich war dankbar, dass Stegi bei mir war und mich hielt.
„Ich versuchs", flüsterte ich mit zugeschnürter Kehle.
„Keine Sättel mehr putzen, wenn du Stress hast."
„Okay", erwiderte ich.
„Du kommst zu uns und wir finden alle zusammen eine Lösung."
„Ja." Ich schniefte und schlang meine Arme um meinen Freund. Nach vielleicht einer Minute gelang es mir, mich wieder einigermaßen aufzurichten und Stegi ins Gesicht zu sehen. Er lächelte erleichtert und nickte mir zu. Er war soweit. Na dann, jetzt kam der Moment der Wahrheit.
Als sich unsere Lippen trafen, durchzuckte mich etwas wie ein elektrischer Impuls und beinahe wäre ich zurück gewichen. Zum Glück tat ich es nicht. So hielt unser einvernehmlicher Kuss an und es war das Beste, was ich seit langer Zeit gefühlt hatte. Echte Freude, innere Ruhe und dazwischen tausende Schmetterlinge, die meinen Körper vor Aufregung prickeln ließen. Das hier hatte ich mir lange Zeit gewünscht, nun wurde es endlich Wirklichkeit.
Aber ich tat nicht, was ich mir in dieser Situation meist vorgestellt hatte. Ich rang nicht um die Oberhand oder versuchte, mit meiner Zunge Einlass in Stegis Mund zu bekommen. Das hier war vor allem sein Moment, mein Freund musste entscheiden, ob ihm das hier gefiel oder nicht und mein Drängen würde seine Meinung sicher nicht verbessern. Dreimal kamen wir in der Mitte zusammen, tasteten und probierten uns vorsichtig aus, dann fiel Stegi von seinen Zehenspitzen zurück auf die Füße und atmete heftig. "Wow...", flüsterte er und sprach damit aus, was auch ich gerade dachte. Wow! Das war wunderschön gewesen. Viel schöner als in all meinen Träumen! Aber... fühlte der Kleine genauso wie ich?
Ein ängstlicher Blick in seine Augen gab mir Gewissheit. Sie strahlten vor Glück und Freude. „Nochmal?", bat er mich und ich musste vor Erleichterung lachen. „Gerne!"
Das war mit Abstand der schönste Tag in meinem Leben seit einer langen, langen Zeit!
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Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)
FanfictionMein Leben bei meiner schrecklichen Familie war nicht länger auszuhalten, also bin ich abgehauen, mitten in der Nacht, ohne Ziel und nur mit dem Wunsch, woanders von vorne anzufangen. Dass ich dadurch meine Bestimmung, meine Zukunft und einen echten...