42.

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POV Stegi

Immer wieder schaute ich mich nervös um. Das hier war eine Wohngegend, die ich noch allzu gut kannte. Eine Straße weiter hatte früher mein Schulweg entlang geführt. Mich beschlich die Angst, zufällig jemandem zu begegnen, der mich erkannte und mich vielleicht bei meinen Eltern anschwärzte. Aber kaum eine Person war unterwegs und niemand beachtete uns weiter, weshalb es mir irgendwann gelang, mich wieder zu entspannen und sogar vorsichtig nach Tims Fingern zu tasten. Hand in Hand erreichten wir den Waldrand, wo unsere Pferde bereits ungeduldig auf uns warteten. Keine Minute später waren wir auch schon wieder vom Dickicht und den Bäumen verschluckt worden.

"Tobi ist unglaublich nett", meinte ich irgendwann in die Stille. Tim lächelte: "Wirklich? Ich fand ihn ein wenig anstrengend. Aber schön, wenn ihr euch verstanden habt."

"Ach Tim, dein Bruder ist halt noch ein Kind! Er geht gerade in die erste Klasse, da sind die alle so nervig in dem Alter!" Belustigt verdrehte ich die Augen und grinste ihn an, als müsse das doch jeder ohne Ausnahme wissen. "Meinst du, er würde Tiere mögen?"

Tim zuckte mit den Schultern. "Vielleicht. Aber du willst etwa, dass er uns auf dem Hof besucht?"

Ich zögerte. „Weiß ich nicht. Aber jetzt wo ich keine Reitstunden mehr brauche, hatte ich mir überlegt, dass wir das vielleicht für Kinder anbieten könnten! So können wir neben der Milch noch ein wenig dazu verdienen!"

„Hm, klingt nicht schlecht. Ich werde es mir merken und mit Molly darüber reden", versprach Tim mir grinsend. Danach schwiegen wir wieder eine Weile. Rexi legte ein schwungvolles Schritttempo an den Tag, als konnte es ihr nicht schnell genug gehen. Tim bemerkte das auch und schaute sich zu mir um: „Du brauchst keine Reitstunden mehr, sagst du? Na dann, zeig mir, was du gelernt hast!"

Ich verstand, gleichzeitig trieben wir unsere Pferde erst zum Trab und dann zum Galopp an. Es war befreiend und fühlte sich wie sanfte Wellenbewegungen an. Ich brauchte den Sattel nicht mehr zum Festhalten! Begeistert richtete ich mich weiter auf, fasste die Zügel kürzer und spürte die Kontrolle. Misty und ich waren ein eingespieltes Team geworden! Gemeinsam flogen wir geradezu über den verwurzelten Waldboden hinweg. Und in diesem Moment wusste ich ganz sicher: Ich konnte das! Ich konnte reiten! Ich hatte es geschafft und brauchte keine Angst mehr zu haben. Die Grundausbildung hatte ich geschafft!


Ein Monat war vergangen, seit wir das erste Mal bei Tims Familie gewesen waren. Niemand hatte mich in der Stadt gesehen, zumindest war noch kein schicker Sportwagen zum Hof gekommen um mich abzuholen. Vielleicht hatten meine Eltern die Suche nach mir auch endlich aufgegeben. Das glaubte ich zwar noch nicht hundertprozentig, aber der Gedanke daran war auf jeden Fall Gold wert!

Mit Mollys Hilfe war es uns auch gelungen, tatsächlich einen Grund zu finden, mit dem wir gegen Herrn und Frau Bau vorgehen konnten. Tims Unterhalt! Selbst wenn sie ihn wirklich für tot erklärt hatten, schuldeten sie Tim mittlerweile eine gewaltige Menge Geld. Damit würden sie nicht davonkommen. Und wenn wir sogar eine Klage deswegen einreichen mussten, wir würden das Geld bekommen und alle Ferkel behalten!

Einmal versuchten wir es noch diplomatisch, scheiterten allerdings schon an der Haustür. Auch Molly hörten sie nicht zu. Also wollten sie es nicht anders.

Der Weg bis vor Gericht zog sich länger, als wir erwartet hätten. Jeden Abend setzten wir uns zusammen in der Hoffnung auf Neuigkeiten, vom Gericht, vom Mutterschaftstest, dem Anwalt den wir mit Mühe bezahlen konnten. Aber als es nach langen Wochen endlich soweit war und Tim das erste Mal vor einen Richter geladen wurde, fühlte es sich seltsamerweise doch sehr früh für diesen Termin an. Beim Essen lächelte mein Freund angestrengt und seine Hand mit dem Suppenlöffel bebte leicht, so nervös war er plötzlich. Ich war auch aufgeregt, obwohl es noch zwei Wochen bis dahin waren und ich während der Gerichtsverhandlung hier bleiben würde, um mich um den Hof zu kümmern. Wir hatten vorhin über den alten Computer im Stall eine Tabelle gesucht und aus Neugier einmal gerechnet, wieviel Unterhalt genau Familie Bau schuldete, und uns waren beinahe die Augen ausgefallen: Einhunderttausend! Einhunderttausend Euro, im schlechtesten Fall. Davon konnten wir zwei Ställe bauen! Ach was, bestimmt auch noch mehr, falls wir das jemals gewollt hätten!

Aber mittlerweile machte Tim sich wieder einen viel größeren Kopf um das Verfahren. Er war ja so gut wie noch nie unter fremde Leute gekommen und formelle Anziehsachen hatte er außer der Turnierkleidung von Mollys Mann auch keine. Als er mit dem Löffel das zweite Mal seinen Mund verfehlte, lehnte ich mich über den Tisch zu ihm hinüber und streichelte sanft seinen linken Handrücken. „Hey, mach dir noch nicht so viele Gedanken darüber, das wird schon!"

Tim schaute zuerst zu mir auf, dann warf er einen hastigen Blick zu Molly hinüber und wurde rot. Achja, wir hatten vor ihr bisher noch keine zärtlichen Momente geteilt. Nicht weil wir ihr nicht vertrauten oder glaubten, sie könnte etwas dagegen haben, sondern... naja, wir waren uns ja selbst noch ein wenig unsicher und wollten keine Dummheit begehen. Doch ich vermutete, dass unsere Mutter zumindest ahnte, was zwischen uns los war. Manchmal schaute sie uns so verschwörerisch an, aber im Moment tat sie, als hätte sie meine zutrauliche Geste übersehen. Das war nett von ihr, viel besser als uns jetzt mit neugierigen Fragen zu löchern.

„Ich glaube, ich schreibe nachher noch ein paar Leuten", meinte Tim plötzlich, „Dann können wir morgen oder übermorgen schonmal mit der Planung für den Anbau beginnen!" Das nervöse Zittern wurde weniger heftig und mein Freund begann seine Suppe so schnell zu löffeln, als würde ihm der Teller sonst jeden Moment weggenommen. Sein Sinneswandel erleichterte mich. So kannte ich Tim, voller Tatendrang; Wahrscheinlich hätte er gerne jetzt schon mit Bauen angefangen, wären das Geld und die Materialien schon da und draußen noch ein wenig Tageslicht übrig.

Ich hatte bereits aufgegessen und war ziemlich müde, also ging ich nach oben um Zähne zu putzen. Auf dem Weg vom Badezimmer in unser gemeinsames Zimmer kam mir Tim entgegen, seine Augen funkelten aufgeregt und ich stoppte mit fragendem Blick vor ihm.

„Stegi, ich hatte gerade eine Idee! Wollen wir heute im Stall übernachten?"

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