4.

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Der nächste Morgen strafte mich mit Augenringen und einer miesen Laune, die sich beim Frühstück noch verschlimmerte. Während ich gähnend den Tisch mit frischen Brötchen, Marmelade, feinstem Schinken und perfekt gekochten Eiern deckte, kam irgendwann auch der Rest meiner Familie an den Essenstisch, ohne mich zu beachten. Außer meiner Mutter natürlich, der schrecklichen Furie. "Marcus, was ziehst du nur wieder für fürchterliche Fratzen? Komm schon her und bring mir die Brötchen!"

Langsam schlurfte ich zu ihr und sah mit leise knurrendem Magen zu, wie sie nach zwei Brötchen griff, um sie sich sofort fingerdick mit Honig zu bestreichen. Bei dem Anblick mochte ich eigentlich immer würgen, so überzuckert sah das triefende Ding auf ihrem Platz aus und so verfressen schob sie es sich auch immer mit höchstens drei Bissen komplett in den Mund und ihren Rachen hinunter. Ich konnte einfach nicht anders, als mich für sie und den Rest meiner Familie zu schämen.

"Stimmt es, dass du mich von der Privatschule abgemeldet hast?", wollte ich vorsichtig wissen und hörte sie belustigt glucksen. "Ja, das habe ich! Wurde höchste Zeit", lächelte sie fies und überlegen, bevor mein Bruder am anderen Ende des Tisches laut und ungeduldig mit den Fingern schnipste und auf das Schälchen mit den gebackenen Bohnen und die Toastbrotstreifen zeigte. Englische Frühstücks-Spezialitäten, die dank seiner Freundin bei unseren Mahlzeiten nicht mehr fehlen durften. Nachdem ich im Anschluss beinahe über sein ausgestrecktes Bein gestolpert wäre und Vater noch einmal Kaffee nachgeschenkt hatte, trippelte ich wieder zurück zu meiner Rabenmutter. "Aber warum? Eine neue Schule bedeutet doch bloß Stress für euch und wahrscheinlich jede Menge Ärger. Gibt es in der Nähe überhaupt noch eine andere Privatschule?"

"Marcus, hör auf so viel unnütze Fragen zu stellen und bring mir noch etwas von dem Schinken!", rief in dem Augenblick mein Vater dazwischen. Mit blindem Gehorsam reichte ich ihm die Glasplatte mit den verschiedenen Schinken und Wurstsorten darauf drapiert, wartete bis seine gierigen Schweinsaugen sich schließlich entschieden hatten und stand dann auch schon wieder erwartungsvoll am anderen Tischende, an dem sich jetzt noch meine Mutter mit einigen Scheiben Salami bediente. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort denn sie wusste, dass sie mich so noch mehr zur Verzweiflung treiben konnte als mit einer simplen Erklärung, Einwilligung oder Verteidigung ihrer bereits gefällten Entscheidung.

"Dein Vater und ich haben uns gestern kurz nach deiner Ankunft beraten und sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Schule nichts für dich ist. Das meiste, was du dort lernst, bringt keinem von uns etwas und verschwendet wertvolle Zeit! Also wirst du ab jetzt hier Zuhause bleiben und nicht weiter irgendeine andere Schule besuchen."

Es klirrte und ein Zucken wie von einer unsichtbaren Schockwelle wanderte durch die drei Anwesenden um mich. Erst als ich an mir herunterschaute merkte ich, dass ich die Glasplatte durch den Schock dieser Ankündigung fallen gelassen hatte und mir diese jetzt in Form von Scherben entgegen glitzerte. Meine Finger fingen an zu zittern. "D-das könnt ihr doch nicht machen!", entfuhr es mir mit viel zu hoher Stimme, bevor ich mich eines besseren besinnen konnte. Sofort stand mein schrankhoher Vater auch schon neben mir und packte mich mit einer seiner Prankenhände am Nacken, sodass ich aufquiekte vor Schmerz. "Wie redest du denn mit deiner Mutter? Und sieh dir nur an, was du Trampel mit unserem Geschirr angestellt hast! Sofort aufkehren und beeil dich, sonst prügel ich dir Manieren in deinen dummen Schädel!", schrie er mir ins Ohr und verzweifelt nickte ich unterwürfig. Die eiserne Hand lockerte sich, ich plumpste zu Boden inmitten der Scherben und beeilte mich dabei, die scharfkantigen Reste aufzuheben und das Blut an meinen Handflächen zu ignorieren, überall dort wo sich das Glas bei meinem Aufprall in meine Haut gebohrt hatte. Dabei unterdrückte ich mir das Schluchzen so sehr, dass ich einen Schluckauf bekam und alle zehn Sekunden nach oben ruckte. Mein Bruder lachte und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne, um mir bei meiner Arbeit zuzuschauen. Die Tatsache, dass ich im Anschluss möglicherweise noch bestraft werden würde, ließ ihn grinsen wie ein Honigkuchenpferd.

Mein ganzes Leben konnte ich hier nicht bleiben. Das würde ich nicht überstehen, ich würde verrückt werden durch die Bestrafungen oder die psychische Belastung. Ich musste etwas tun. Irgendwas!

Nachdem ich die letzte Scherbe aufgelesen, den Frühstückstisch abgedeckt und nachträglich für mein Missgeschick eine Ohrfeige von meiner Mutter kassiert hatte, war mein Entschluss gefasst. Mein erster Ausbruchversuch mochte gescheitert sein, aber damals war ich noch deutlich jünger gewesen. Zwar hatte ich riesige Angst vor den Konsequenzen, falls ich wieder geschnappt wurde, aber es musste sein! Die einzige Alternative war es, für den Rest aller Zeiten der Sklave meiner grässlichen Familie zu sein. Und alles, absolut alles war besser als das!

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