49.

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Gegen Abend kam Molly nochmal vorbei und erstattete uns Bericht. Zehn Hühner hatte sie bisher wiedergefunden von über vierzig und sie erst einmal im Haupthaus untergebracht. Coco, der Eber und fünf der neun Ferkel waren nur bis zum Rand der Lichtung gekommen und hatten sich dort in einer kleinen Senke versteckt, Emma hatte man auf einer Landstraße mitten im Wald aufgegriffen und zwei weitere Kühe waren von selbst zum Hof zurückgekehrt. Die Pferde auf der Koppel waren sicher gewesen, aber Kyle und Tsunami wurden immer noch vermisst. Und Tims Kaninchen würden wohl für immer verschwunden bleiben, wenn wir sie nicht durch reinen Zufall fanden. Eine niederschlagende Bilanz, trotz der Zahl der überlebenden Tiere. Mit drei Kühen allein konnte Molly ihren Lieferservice nicht aufrecht erhalten und zehn Hühner legten nicht annähernd genügend Eier, um ihre Bekannten für Benzin, Heu- und Strohlieferungen zu bezahlen. Die fehlenden Pferde mussten auf einen ehrlichen Finder hoffen, sonst sahen wir die nie wieder. Doch vor allem brauchten wir einen neuen Stall, um unseren Freunden ein Zuhause geben zu können. Zwanzig Pferde passten bei einem Unwetter nicht in das Haupthaus. Deshalb war es jetzt umso wichtiger, Hinweise auf den Täter zu finden!

Nach einem Gespräch mit den Ärzten erlaubten sie Tim noch heute zu gehen. Er versprach mir, sein Bestes zu geben und seine Augen offen zu halten, doch was sie zwei Tage später fanden, hätte ich niemals für möglich gehalten.

Ich war gerade erst frisch entlassen worden und hatte netterweise das Angebot bekommen, von einem Pfleger direkt zum Hof gefahren zu werden. Natürlich nahm ich an, aber nachdem er mich abgesetzt hatte und weggefahren war, wirkte die Lichtung wie ausgestorben. Niemand kam mir entgegen um mich abzuholen, also stapfte ich alleine die restlichen Meter zu meinem Zuhause, das ohne den Stall im Hintergrund sehr einsam auf der halb niedergebrannten Wiese wirkte. Waren die beiden gerade im Wald und kämmten nochmal alles gründlich nach unseren Tieren ab? Es wirkte beinahe so, bis ich die Tür öffnete und wie erstarrt im Eingang stehen blieb.

Auf meinem Platz am Essenstisch saß jemand, der sich gerade mit beiden Händen eine Scheibe selbstgebackenes Brot mit Wurst in den Mund zwängte. Seine Kleidung war vom Kragen bis hinunter zu den Schuhen verdreckt und zerlumpt, die sonst so säuberlich gegeelten Haare waren ein einziges Chaos. Aber es war dennoch mein Bruder, der sich hier den Bauch vollschlug.

Dann entdeckte ich Molly und Tim, die bis eben an den Wänden gelehnt und den Fremden beobachtet hatten. Jetzt kamen sie auf mich zu und umarmten mich. „Schön dass du wieder da bist! Gehts dir besser? Tut dein Rücken noch sehr schlimm weh?"

„A-alles gut", stotterte ich verwirrt, mein Blick war weiterhin auf meinen Bruder fixiert, der beim Klang meiner Stimme zusammengezuckt war und mich mit einer Mischung aus Scham und Angst musterte. „Was macht der hier und warum kriegt er Essen?"

„Er hatte eine Autopanne, sagt er", erklärte mir Tim im nächsten Moment auch schon, „Und dann hat er vorhin die Lichtung wiedergefunden. Hätten wir ihm nichts gegeben, wäre er vielleicht über unsere Tiere hergefallen."

„Ich hatte seit drei Tagen nichts zu essen!", schrie der schmutzige Kerl dazwischen. Seine Pupillen zitterten merklich und er umklammerte seine Portion fester. „Ihr wisst gar nicht, was das für ein Gefühl ist, so hungrig zu sein!"

Oh doch, ich wusste das. Auch Tims Augenbrauen zogen sich drohend zusammen bei dem Ton unseres 'Gastes'. „Mund halten, du kannst froh sein, dass wir dich nicht sofort wieder rausgeschmissen haben!"

„Aber-, a-aber-!", fing mein Bruder an. Ihn so zu sehen, das erste Mal über ihm zu stehen in einer Situation füllte mich mit Genugtuung. „Mein Handy hat den Geist aufgegeben, mein Auto ist nur noch Schrott mitten im Nirgendwo und alle Wege im Wald führen im Kreis! Es ist doch nicht meine Schuld, dass ich jetzt Hilfe brauche!"

„Und ob das deine Schuld ist, du Frettchen", zischte Tim ihn an und mir fiel erst jetzt auf, dass Molly seine Haare geschnitten haben musste. Sie waren jetzt alle einheitlich auf Stoppel getrimmt und die neue Frisur gab Tim eine ganz neue Ausstrahlung, die zwar nicht zu seinem sonst heiteren Charakter passte, aber dafür viel besser zur aktuellen Situation. Er wirkte einschüchternder, sogar seine Armmuskeln wirkten mit diesem Look gleich dreimal so kräftig. Der Mann zuckte zusammen unter Tims Ausbruch. „Bitte, ich will nur..."

„Du hast unseren Hof angezündet und uns beinahe umgebracht! Und unsere Tiere mit dazu! Du hast hier absolut nichts zu sagen!", wetterte Tim weiter. Mittlerweile war sein Gegenüber beinahe unter der Tischplatte verschwunden, so winzig war er zusammengeschrumpft. Er war alleine, niemand hier unterstützte ihn. Unsere Eltern hatten ihn mehrere Tage lang nicht gefunden, vielleicht suchten sie nicht einmal nach ihm, um den Verdacht von sich und ihrer Familie abzulenken. Mit einer Brandstiftung wollten sie ganz bestimmt nichts am Hut haben!

„Ich konnte doch nicht ahnen, wie schlimm das wird! Ich dachte-"

„Wenn ich noch einmal ein 'Ich' aus deinem Mund höre, vergesse ich mich! Wie blöd kann man denn sein? Ein Stall aus Holz und Stroh brennt natürlich bis in den Grund! Es hat tagelang nicht geregnet! Dachtest du, dass das Feuer irgendwann keinen Bock mehr hat und von alleine ausgeht? Hä?"

„N-naja, also..."

„Stopp mal", bat ich die beiden Jungs und erntete von beiden Seiten verwunderte Gesichtsausdrücke. Tim sah verletzt aus, dass ich ihn nicht fertig abreagieren ließ. Im Gesicht meines Bruders keimte sogar Hoffnung auf: „Marcus, du weißt dass ich das nicht wollte! Ich mache mich nicht gerne schmutzig, erklär das den Leuten bitte!"

Mein Blick ließ ihn verstummen. „Du bist ein mieser Drecksack, mehr muss ich nicht erklären. Aber ich habe tatsächlich ein Angebot für dich: Wir zeigen dir den Weg aus dem Wald und niemand außer uns und deiner Familie wird hiervon erfahren."

„Ja! Ich nehme an!", stieß der Kerl hervor, kaum dass ich meinen Satz vollendet hatte. Jetzt sah mich sogar Molly besorgt an: „Aber Stegi..."

„Dafür", fuhr ich fort, „Lasst ihr mich in Ruhe. Ich will euch nie wieder sehen oder von euch hören. Und ihr gebt uns das Geld, dass die Familie Bau uns verweigert hat. Solltet ihr euch nicht daran halten, dann machen wir alles öffentlich. Und selbst wenn wir keine Beweise dafür hätten, wäre der Ruf der Familie Penzel danach ruiniert. Also, haben wir immer noch einen Deal?" Ich streckte dem Schleimbeutel sogar meine Hand entgegen, damit er mein Angebot formal besiegeln konnte.

Diesmal zögerte er, aber nicht besonders lange. „Deal. Und jetzt bringt mich hier raus! Ich will duschen und endlich etwas vernünftiges essen, nicht- ...ich meine, das Brot war auch gut. Besser als nichts..."

Vielleicht dachten Tim und Molly jetzt, dass das nicht genug war. Dass ich entweder mehr hätte erpressen sollen als bloß die läppischen Einhunderttausend oder dass meine Bedingungen zu locker waren. Aber wenn ich eines wusste, dann war es wie viel es meinen Eltern bedeutete, ihren Status zu schützen. Sie würden sich an den Deal halten und uns das Geld geben, auf einem Silbertablett mit Handkuss. Und ich war dann endgültig frei aus ihren Klauen. Nie wieder ihren Butler spielen, verprügelt und eingesperrt werden oder sämtliche Drecksarbeit für sie erledigen. Nie. Wieder.

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