20.

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"W-was ist das?", flüsterte ich schließlich. Tim wand sich zwischen Verzweiflung und auch Wut. Als hätte ich ihn bei etwas sehr intimen erwischt. Hätte ich doch nur nicht hingesehen. Hätte ich schon geschlafen, dann gäbe es jetzt nicht diese unangenehme Situation zwischen uns. Aber es war nunmal passiert.

"Es... es ist eine Erinnerung...", krächzte er, während er sich hastig das Tshirt über den Kopf zog und sich von mir abwandte, "daran, dass ich ein Bastard bin!"

Damit löschte er das Licht, verkroch sich unter seiner Bettdecke und ließ mich mit noch mehr Fragen als zuvor zurück. Was hatte Tim damit gemeint, dass er ein Bastard war? Und wer hatte ihn so dafür zugerichtet? Ein Tier... oder doch ein Mensch? Es war einfach so verwirrend. Ich wusste nicht einmal, wie alt diese Narbe war. Nur dass er sie immer vor mir versteckt hatte, nie ohne ein Oberteil schlafen gegangen war und ausschließlich Hemden mit hohen Kragen getragen hatte. Nicht einmal hatte ich ihn oberkörperfrei gesehen, bis jetzt. Und ich konnte es nicht mehr ungeschehen machen.


Den ganzen nächsten Tag über beachtete Tim mich nicht. Wann immer Molly dabei war tat er so, als sei alles normal, aber ich wusste, dass der Schein trügte. Unter seiner Oberfläche brodelte es zornig, ob es gegen mich oder ihn selbst gerichtet war, konnte ich nicht sagen. Er hatte sich einen Großteil der Zeit in seinem Büro im Stall eingeschlossen und überließ es deswegen mir, mich um das Füttern der Tiere zu kümmern. Ausmisten konnte ich mit meiner Hand noch nicht wieder, ich hatte es versucht, aber sofort abbrechen müssen, weil der dumpf pochende Schmerz sofort zurückgekommen war, so grässlich wie er auch knappe Zeit an den Unfall gewesen war.

Nachdem ich um die Mittagszeit herum nach den Hühnern gesehen, mit Molly die nasse Wäsche aufgehangen und beim Ernten von Tomaten und Gurken geholfen hatte, war seine Tür noch immer verschlossen. Es kam auch keine Regung von drinnen, als ich klopfte und nach den Reitstunden fragte. Alleine konnte ich niemals einhändig einen Sattel tragen, erst recht nicht von der Wand heben und ich traute mich auch ehrlich gesagt noch nicht wieder auf Mistys Rücken, schon gar nicht ohne jemanden, der sie im Ernstfall beruhigen konnte. Aber die Stute brauchte ihren Auslauf, den ganzen Tag hatte sie mit den Hufen scharrend im Stall verbracht, da noch niemand die Zeit gehabt hatte, um sie auf die Weide zu den anderen Pferden zu bringen, die nicht täglich ausgeritten werden konnten. Also lag das jetzt wohl an mir. Ich erinnerte mich an das, was Tim mit ihr gemacht hatte, als ich noch nicht traben konnte. Er hatte sie auf der Reitfläche von der Leine gelassen und einfach ein wenig im Kreis gescheucht, damit sie sich auspowerte. Wenn ich aufpasste, sie nicht mit zu heftigen Bewegungen zu erschrecken, sollte ich das auch schaffen können!

Misty lauschte auf, als ich den Riegel zu der Box zurückschob und ihr einen Zuckerwürfel vor die Schnauze hielt. "Na Madame Angsthase, gehts dir wieder besser?", fragte ich schief lächelnd. Natürlich war ich ihr nicht allzu böse, sie konnte ja nichts dafür, dass das Auto sie erschreckt hatte. Entschuldigend stupste sie mir in den Bauch und schnaubte tief. Grinsend zog ich ihr das Halfter über, führte sie in die Gasse vor dem hinteren Tor zum Reitplatz und hielt inne, als ich Hufgetrappel hörte. Aber nicht Mistys, die Schläge klangen zu dumpf für Steinboden, zu schwer für das kleine Pferd und hielten weiter an, als ich meine Stute stoppte. Verwundert öffnete ich das angelehnte Holztor.

Mir bot sich ein ungewohntes Schauspiel. Die Trainingsfläche war beinahe nicht mehr wiederzuerkennen. Überall türmten Stapel aus Fässern, Blecheimern und Kisten und bildeten zusammen Hindernisse, kleine und große, in regelmäßigen Abständen auf dem rechteckigen Platz verteilt.

Dann entdeckte ich den Verursacher der fremden Geräusche: Ein mir unbekannter, großer, brauner Hengst, der unerwartet anmutig beinahe über dem Boden zu fliegen schien. Auf ihm saß jemand, den ich erst beim genaueren Hinsehen als Tim erkannte. Er hatte eine glänzende, schwarze Jacke mit einem weißen Hemd darunter an, eine schwarze enge Reiterhose und ebenfalls schwarze Stiefel, in denen sich die Sonne spiegelte. Seine langen Haare hatte er sich zu einem kleinen Knoten hochgebunden und er trug im Gegensatz zu sonst auch keinen Helm. Als würde er sich gerade bei einem Turnier befinden und nicht auf einem Hof inmitten von fast unberührtem Wald und Wiesen.

Jetzt lenkte er das Pferd auf das erste der Hindernisse zu, trieb es weiter an und lehnte sich erwartungsvoll ein Stück nach vorne. Als seien die beiden miteinander verschmolzen, hoben sie elegant vom Boden ab, beschrieben einen perfekten Bogen, ließen den Fässerstapel hinter sich, als wäre es ein leichtes und nahmen Kurs auf den nächsten. Nicht einmal streiften Hufe oder Schweif die Gegenstände unter sich, obwohl die Hürden der Reihenfolge nach stetig anwuchsen. Mit einem finalen Satz überquerten sie schließlich die imaginäre Ziellinie und Tim beugte sich herunter, um die kräftigen Flanken des Tieres zu tätscheln. Dann kreuzten sich unsere Blicke, wie Magneten, die der jeweils entgegengesetzten Anziehungskraft nicht widerstehen konnten. Die Freude, die eben noch in seinem Gesicht gestanden hatte, verblasste augenblicklich, er stieg ab und kam mit einigen schnellen Schritten näher. "Wie lange stehst du da schon, hm? Denkst du, das hier ist ein Spielplatz? Was wenn du Charon erschreckt hättest, was wenn er vor Angst einen Sprung verweigert hätte, was dann, sag doch mal?!"

"Ich-ich wollte doch nur-", fing ich eingeschüchtert an, aber Tim hörte mir nicht zu.

"Mir doch egal was du wolltest! Scher dich weg und wehe Molly erfährt hiervon, sonst lernst du mich erst richtig kennen, verstanden?"

Mit Tränen in den Augen drehte ich mich wortlos um, stürmte an Misty vorbei und weiter in die Stallungen hinein, nur weg von diesem Jungen, den ich gestern noch als meinen Bruder bezeichnet hatte. Wie von alleine fanden meine Füße den Weg zu der Box von Cora, dem trächtigen Schwein, das durch ihr zusätzliches Gewicht auf dem mit Stroh gepolsterten Boden lag und etwas erschöpft den Kopf hob, als ich hineinstürmte. Völlig am Ende glitt ich an der Innenwand hinunter und begann bitterlich zu weinen, das Gesicht in den Armen vergraben, die Beine an den Körper angewinkelt. Die Sau grunzte langgezogen, was sich irgendwie mitfühlend anhörte. Anscheinend ging es uns beiden grade nicht blendend. Meine verbundene Hand sank neben mir herunter und sofort spürte ich die nassen Borsten ihrer Nase an meinen Fingern kitzeln.

Mit meinen Gedanken noch immer bei den Erlebnissen von eben begann ich die Schweinedame geistesabwesend zu kraulen. Es stimmte was man so sagte, Tiere um einen herum wirkten unglaublich beruhigend. Und sei es auch nur Cora, die sich durch das viele Leben in ihrem Bauch kaum noch rühren konnte, ihre Grunzgeräusche zu hören war wie Balsam für meine Seele. Der Schluchzreflex wurde schwächer, mein aufgewühltes Inneres ruhiger und mein Kopf klarer. "Dankeschön", murmelte ich ihr zu und tastete mich zu ihrem Bauch vor.

Tatsächlich war da kaum noch eine Stelle, an der man keine Tritte spüren konnte. Jeden Tag konnte es nun soweit sein. Wie viele Ferkel Cora wohl werfen würde? So rund wie sie war konnten es sogar mehr als zehn Stück werden, die Vorstellung an so viele kleine rosa Schnauzen und schwarze Knopfäuglein ließ meine Vorfreude noch weiter steigen.

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