17.

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Die Schweinefrau hatte fertig gefressen und zog sich zufrieden in eine Ecke der Box zurück, um sich hinzulegen. Tim hob den Eimer auf und endlich wagte ich mich zu fragen: „Wie hast du bemerkt, dass ich nicht sechzehn bin?"

Der Junge schaute mich neckisch an. „Du hast dich am Anfang echt angestrengt, erwachsener zu wirken. Aber du bist kein besonders guter Schauspieler. Ich fand einfach, dass du dich nicht wirklich wie ein Sechzehnjähriger verhältst."

Also war es halb Zufall, halb Missgeschick gewesen, dass die Lüge rausgekommen war. Das beruhigte mich. Solange ich nur weiterhin auf meinen neuen Namen reagierte, sollte der sicher sein. „Tim? Gibst du mir heute noch eine Reitstunde?"

"Na klar, wenn du möchtest. Holen wir Misty und machen sie hübsch! Und mach dir keine Sorgen um die Sache mit der Sense, das machen wir morgen zusammen und ich zeig dir, wie das funktioniert."


Das Reiten heute hatte mir alles abverlangt. Erst waren wir wieder zum Eingewöhnen einige Runden gelaufen, ich hatte die Zügel aufnehmen und ein Stück freihändig aushalten sollen, dann hatte Tim die Leine gelöst und war im Abstand von etwa zwei Metern neben mir her gegangen, damit ich mich trotzdem einigermaßen sicher fühlte. Und es hatte geholfen! Ganz entspannt hatte ich mich von Misty tragen lassen weil ich wusste, dass ich das bereits konnte. Dann war etwas neues dazugekommen: "Du hattest ja gestern gesehen, dass die Pferde auch einen Gang schneller laufen können. Und traben tun sie sogar ganz gerne. Wenn du erstmal den Rhythmus spürst, wirst du merken, dass es leichter als das Schritttempo ist. Halt dich jetzt am Anfang nur vorne am Sattel fest und wenn du denkst, du hast den Dreh raus, dann steh mit den Füßen in den Steigbügeln auf. Schaffst du das?"

Am Anfang war es die Hölle gewesen. Meine Finger hatten sich beim Festklammern so stark verkrampft, dass ich sie beinahe nicht mehr gespürt hatte. Es war ein einziges auf- und abschütteln gewesen, mein Steiß hatte sich wund angefühlt und ich wollte nur noch wieder auf den Boden zurück, in Sicherheit. Tim hatte irgendwann zwischendrin kurz abgebrochen und mir nochmal gut zugeredet. Dass ich mich super halten würde und ich stolz auf mich sein konnte, nicht einmal auch nur einem Sturz nahe gewesen zu sein. Dann ging es wieder weiter. Ich traute mich immer noch nicht, im Sattel aufzustehen. Das war doch bloß alles wackelig und unsicher, wenn ich das tat! Kurz bevor ich dachte, vor Erschöpfung umzukippen, hörte ich Tim neben mir schnaufend die Takte mitzählen: "Auf eins hoch, auf zwei runter, okay? Eins, zwei, eins, zwei...!"

Mit letzter Kraft hatte ich es schließlich versucht und plötzlich fühlte es sich gar nicht mehr schlimm an! Solange man nicht schneller oder langsamer wurde, war das Traben ja wirklich ganz angenehm! Tim strahlte über sein ganzes Gesicht, als ich immer wieder und immer wieder von alleine aufstand, die Furcht aus meinen Gedanken vertrieb und ebenfalls erleichtert zu lächeln anfing. Misty schnaubte, schüttelte ihren Kopf und ging allmählich wieder in den Schritt über. Völlig fertig sank ich mit meiner Stirn vor auf ihren Hals, umarmte sie soweit wie möglich und vergaß vollkommen, mich wie ein verschrecktes Eichhörnchen irgendwo festzuklammern. Tim half mir vorsichtig vom Pferderücken herunter und begann zu jubeln als er sicher war, dass die Stute nicht scheuen würde. "Du hast es geschafft! Du hast es geschafft, in deiner zweiten Reitstunde Stegi! Kannst du dir vorstellen, wie lange ich damals dafür gebraucht habe? Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr, aber auf keinen Fall nur zwei Tage! Ich bin mega stolz auf dich!" Er erdrückte mich beinahe in seiner Umarmung und ich kam gar nicht mehr aus dem Grinsen heraus. Ja, in zwei Tagen hatte ich echt einige Fortschritte gemacht.

Und nicht nur beim Reiten. Ich glaubte, bereits nicht mehr ganz so schreckhaft und unterwürfig zu sein, wie noch unter dem Einfluss meiner Familie. Das Hantieren mit der Sense heute früh hatte mich gelehrt, mich nicht zu überschätzen, die Sachen langsamer anzugehen und das es keine Schande war, Hilfe anzunehmen. Vielleicht wurde ja doch noch eines Tages etwas ordentliches aus mir.

Molly empfing uns bereits besorgt an der Tür, entspannte sich aber, als sie uns beide so glücklich und zufrieden sah. "Ist alles wieder in Ordnung?", wollte sie wissen, "Und hast du dich auch nicht verletzt Stegi?"

Unsicher betrachtete ich meinen Daumen. Bluten tat er schon lange nicht mehr und der Einschnitt schien auch nicht wahnsinnig tief zu sein. "Geht schon, danke trotzdem!", erwiderte ich also und schlang dann hastig meine erste Mahlzeit heute in mich hinein, während Tim seiner Mutter begeistert von meinen Fortschritten auf Misty berichtete.

Nach dem Abendessen verschwand er in den Stall, ausmisten, die restlichen Tiere füttern und nochmal eine Runde ausreiten. Ich übernahm wieder die Hühner und fegte noch ihren Schmutz und leere Körnerhülsen zusammen. Im Zwielicht sah ich von hier aus durch die mit Draht versperrten Fenster die Silhouette von Tim immer kleiner werden und dann wie gestern im Wald verschwinden. Ein wenig konnte ich Mollys Furcht von gestern in diesem Augenblick verstehen. Ich hätte vermutlich zu viel Angst davor, um diese Zeit noch loszuziehen. Hoffentlich verlief er sich nicht irgendwann oder stürzte, sodass er nicht mehr zurück konnte. Andererseits war er älter, erfahrener und um einiges ruhiger als ich. Er kannte die Umgebung wie seine Westentasche und ging keine unnötigen Risiken ein. Tim wusste, was er schaffen konnte und was nicht. Ich machte mir nur viel zu viele Gedanken.

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