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POV Stegi

Ich wusste bereits von weitem, dass ich zu spät war. Lichter zuckten zwischen den Baumstämmen hindurch, die heller und heller leuchteten. Als ich endlich aus dem Wald herausbrach, war der Stall von außen schon nicht mehr als einer zu erkennen. Das Strohdach war vollkommen von den Flammen verzehrt worden, tiefschwarzer Qualm, schwärzer als der von Wolken bedeckte Himmel quoll aus ihm hervor und durch das offene Tor konnte ich das Inferno im Inneren sehen. Keine Chance, das Gebäude noch retten zu können. Aber, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Molly und Tim schon schlafen gegangen waren und das Feuer nicht wüten hörten, trat ich auf die Lichtung hinaus. Der Weg zum Haupthaus war aber unnötig, denn ich konnte Mollys kleine, rundliche Statur ausmachen, sie stand mit dem Rücken zu mir vor dem lodernden Stall und hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen. Hastig rannte ich auf sie zu.

"Mutter! Wo ist Tim!", rief ich schon im Laufen, überrascht hob sie ihren todtraurigen, mit Tränen gefüllten Blick und starrte dann wieder auf das ersterbende Gebäude vor sich. Ich hätte es wissen müssen! Tim würde wenn nötig sein Leben für die Tiere geben! Ohne weiter nachzudenken sprang ich über einen brennenden Balken am Eingang zum Stall und kämpfte mich durch die sengende Hitze. "Tim? TIM?" Doch egal wie laut ich brüllte, es kam keine Antwort. Von nirgendwo.

Ein Gang zu meiner rechten war bereits zugeschüttet mit glühenden Holz- und Bretterresten, dort konnte ich unmöglich lang. Also weiter geradeaus, den nächsten Abzweig links, kein Zipfel rot-schwarz karierten Stoffes! "TIM!", hustete ich, griff mir an die Kehle und blinzelte mit tränenden Augen. Nicht mehr lange und ich würde bei lebendigem Leibe geräuchert werden!

Dann endlich sah ich etwas, in der letzten Ecke des Stalls. Ein Trümmerhaufen aus zerbrochenen Dachbalken, der mitten auf den Steinplatten wie ein Scheiterhaufen aufgerichtet thronte. Sie hatten eine Box nebenan komplett zertrümmert, den Aufprall konnte unmöglich jemand überstanden haben, der darunter geriet! Doch genau unter diesen massiven Holzstämmen sah ich plötzlich einen Reitstiefel herausragen, der mir schmerzhaft vertraut vorkam.

"TIIIIM! NEIN, NEIN!", kreischte ich, schlitterte auf den Boden neben ihm und begann, seinen Körper unter den sperrigen Balken heraus zu befreien. Glücklicherweise war hier weder der Rauch zu dicht, noch das Feuer weit genug fortgeschritten, mir blieb also noch ein wenig Zeit, bevor wir eingekreist waren. Verzweifelt stemmte ich ein Gewicht nach dem anderen von dem Haufen, mehr und mehr von Tims Körper kam zum Vorschein. Auch er hatte Glück im Unglück gehabt, genau über ihm hatte das Holz eine Art Zelt gebildet, sich ineinander verkeilt und ihn so nicht weiter verletzen können. Nur ein besonders breites und schweres Brett hatte ihn genau auf Hüfthöhe erwischt, sicher war das der tragende Dachbalken gewesen, durch den das gesamte Konstrukt instabil geworden war. Meine Muskeln schmerzten und mir tropfte der Schweiß von der Stirn, während ich den riesigen Holzklotz Stück für Stück von Tim herunterbewegte. Dann legte ich mir seinen schlaffen Arm über die Schultern und stützte ihn halb auf meinen Rücken, der durch meine Anstrengungen unter Höllenqualen schmerzte.

Das Tor zum Reitplatz war näher als das Eingangstor und ich glaubte kaum, dass es jetzt noch passierbar gewesen wäre. Vermutlich hatte mein leiblicher Bruder dort in der Nähe auch das Feuer gelegt. Doch über ihn musste ich mir später Gedanken machen, jetzt galt es erst einmal, Tim zu retten! Natürlich hatte er schon alles für die Nacht abgeriegelt und nur widerstrebend setzte ich ihn nochmals ab, um die hinteren Türflügel aufzustemmen. Aber es ging nicht, etwas klemmte! Egal wie oft ich es versuchte und wie kräftig ich mich dagegen warf!

"Runter", murmelte plötzlich eine schwache Stimme neben mir. Tim war wieder bei Bewusstsein und zog an meinem Hosenbein, um meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Seine Augen waren so sehr getrübt, dass ich unsicher war, ob er mich überhaupt richtig sah. "Runter", verlangte er wieder und als ich das Knacken hinter uns hörte, verstand ich. In letzter Sekunde duckte ich mich und hielt mir die Arme über den Kopf. Es polterte, dann zog eine Hitzewelle über unsere Köpfe hinweg, so stark dass ich glaubte, gleich selber in Flammen aufzugehen. Der Druck des soeben auf dem Boden aufgeschlagenen Dachstückes war so groß, dass er die Tore - auf die er ungebremst geprallt war - praktisch aus den Angeln sprengte. Hätte ich noch gestanden, wäre ich vermutlich ebenfalls gegen die Bretter geschleudert und zerdrückt worden, als hätte mich ein LKW erfasst! Das war verdammt knapp gewesen...!

Vor Angst keuchend und durch die Asche in der Luft röchelnd packte ich Tim am Kragen seines Hemds und zog ihn hinaus auf den Reitplatz. Doch selbst hier würden wir nicht mehr lange vor den Flammenzungen sicher sein, sie waren problemlos vom Stall auf das trockene, hüfthohe Gras in der Umgebung übergegangen und begannen sich in einem Kreis über die gesamte Lichtung zu fressen. Bald würde auch das Haupthaus zum Opfer des Feuers werden. Und danach der angrenzende Wald! Mein Idiot von Bruder würde für die Vernichtung vom Zuhause unzähliger Lebewesen verantwortlich sein! Wahrscheinlich würde das nur noch ein Wunder verhindern können...

Als hätte der Himmel mich gehört, ertönte aus der Ferne plötzlich ein lautes Grummeln. Dann zuckten Blitze über den Himmel, drei, vier Stück, begleitet von immer lauter werdendem Donner. Keine Minute später setzte auch schon der Platzregen ein. Es war ein unheimlicher Kampf zweier so starker Naturgewalten, die Flammenherde zischten bösartig und schienen nicht aufgeben zu wollen. Noch immer drang Qualm aus der Stallruine hervor, verdunkelte den Himmel immer weiter und glomm dunkelrot, angeheizt durch die letzten, vor dem Regen sicheren Orte, in denen es noch lichterloh brannte. Erst nach und nach beugte das Feuer sich dem Wasser, die letzten Glutherde erloschen und tauchten die Nacht wieder in Finsternis. Außer dem Rauschen der riesigen Tropfen war nichts mehr zu hören. Die plötzliche Ruhe war unheimlich und brachte nur stärker ins Bewusstsein, wie viel wir soeben innerhalb weniger Augenblicke verloren hatten. Eine Zuflucht, ein Zuhause, eine Zukunft. Wir waren am absoluten Nullpunkt angelangt. Aber vielleicht konnte es doch noch irgendeine Lösung geben...

Neben mir begann Tim sich wieder zu bewegen. Sehr langsam bloß, zuerst regte er nur ein paar Finger, dann hob er probehalber den Kopf und stöhnte laut. Seine Augen waren leer, während er den Stall betrachtete. Es war alles gewesen, was er je gekannt hatte. "Charon...", flüsterte er mit gebrochener Stimme, "Wo ist Charon?" Ich konnte es ihm nicht sagen. Nirgendwo hatte ich den Haflinger Mischling auf meiner Suche nach ihm ausfindig machen können.

Mein Freund begann zu schluchzen, sein ganzer Körper bebte dabei. "Alles kaputt... alles", brachte er noch hervor. Dann schien er zum ersten Mal zu realisieren, wer da eigentlich neben ihm saß. "D-du...?", hauchte er ungläubig, ich nickte müde. "Ich bin so froh, dass ich dich noch rechtzeitig gefunden habe! Beinahe hätte ich dich verloren..."

Tims Gesicht verdunkelte sich vor meinen Augen, genauso wie der Rest der Welt. Erst jetzt wurde mir klar, was ich soeben vollbracht hatte und in welchem Zustand ich mich befinden musste. Momente später wurde ich ohnmächtig.

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