21.

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In diesem Augenblick quiekte die Sau plötzlich auf und ich zog meine Hand schnell weg. Hatte ich aus Versehen zu fest zugedrückt? "Tschuldigung Cora!", rief ich, doch sie wollte gar nicht mehr mit Schreien aufhören. Ihre Beine begannen zu strampeln und erst nach einigen Schrecksekunden begriff ich, was da eben passierte. Die Jungen kamen, jetzt, in diesem Augenblick! Hektisch krabbelte ich näher zu ihr, unsicher was ich tun konnte, damit sie nicht so herzzerreißend laut brüllen musste und litt. Durch ihren Bauch ging eine deutlich sichtbare Welle, dann noch eine. Was sollte ich tun?!

Tim! Tim wusste sicher was zu tun war! Es widerstrebte mir, das leidende Tier alleine hier liegen zu lassen, aber es musste sein.

Der Stall schien in meiner Panik noch größer als sonst, hinter jedem Winkel glaubte ich einen Zipfel rot-schwarz karierten Stoffes von seinen weiten Hemden zu erspähen, aber jedes Mal entpuppte es sich als ein Streich meiner Fantasie. Coras Schreien war schon fast nicht mehr hörbar, es ging in dem allgemeinen Schnauben, Muhen, Scharren und Rascheln beinahe vollständig unter. Und dann sah ich Tim, der gerade Mistys Halfter zurück an seinen angestammten Platz hängte. "Tim! Tim, du musst mitkommen, es-"

"Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht im Stall rennen sollst? Nicht einmal dein Pferd hast du zurückgebracht, das bleibt alles an mir hängen! Hast du denn überhaupt gar nichts-?"

"Hör doch...", flehte ich. Tim wurde tatsächlich leiser und in diesen Moment durchschnitt das laute, gequälte Quieken die Luft. "Cora, die Ferkel", stammelte ich noch, wieder den Tränen nahe, doch Tim hatte bereits verstanden. "Komm mit", verlangte er, nahm mich bei der Hand und rannte den Weg zurück, den ich gekommen war.

Als er die Tür zur Box aufriss, lagen bereits drei zitternde rosa Bündel hinter ihr im Stroh, das vierte war soeben auf dem Weg. Doch irgendwas stimmte nicht, die Schweinedame machte keine Anstalten, sich um ihre Ferkel zu kümmern, wie Molly es mir heute Vormittag beschrieben hatte. Normalerweise sorgten Säugetiere sofort dafür, dass ihre Jungen trocken wurden und nicht durch die Flüssigkeit der Fruchtblase erstickten oder erfroren. Und es kam noch schlimmer, dem nächsten Schweinchen folgte ein großer Schwall Blut, der sich augenblicklich in das Strohpolster sog. Ich bildete mir sogar ein, dass Coras Zucken und Strampeln bereits schwächer wurde. "Tim, sie stirbt! Tu was, wir können das doch nicht zulassen!", jammerte ich, doch Tim regte sich nicht von der Stelle. Entsetzt betrachtete er die Szene, die sich vor ihm abspielte, jedoch ohne einzugreifen. Ich schniefte. "Tim, bitte, rette sie!"

"Das geht nicht. Wir haben keine Medikamente für sie und nichts, um sie zu retten", murmelte er belegt. In seinen Augen spiegelte sich der Schmerz.

"Wie, nichts für sie? Wir haben also doch was, du willst es ihr nur nicht geben?!"

"Wir haben drei erwachsene Säue, aber nur einen Eber. Ohne ihn hätten wir bald keinen Nachwuchs mehr. Wir brauchen die Medikamente im Notfall für ihn. Es geht leider nicht anders Stegi!"

"Du willst sie einfach sterben lassen!?"

Er packte mich an den Schultern und drehte mich zu ihm herum, sodass ich seinem Blick nicht ausweichen konnte. "Denk nicht, dass ich kein Herz habe", zischte er zwischen seinen gefletschten Zähnen hervor, "von Wollen ist hier nicht die Rede! Ich muss es tun, nur so können wir den Hof weiter so führen wie bisher. Ich hab Cora gekannt, seit sie selbst ein Ferkel war! Wir sind zusammen groß geworden! Du glaubst gar nicht, wie sehr es mir weh tut, sie so zu sehen, aber sie ist alt, zu alt um nochmal zu werfen. Versteh es doch bitte!"

Ein kehliges Grunzen lenkte unsere Aufmerksamkeit zurück zu der sterbenden Schweinedame. Sie lag jetzt ganz ruhig da, als sei sie auch schon zum Kämpfen zu schwach. Ein weiteres Mal erzitterte ihr Bauch und das letzte Ferkel fiel hinter ihr zu seinen Geschwistern, dann war es mit einem Schlag ganz ruhig. Aufgelöst stürzte ich zu der tapferen Sau, presste meine Stirn gegen ihren borstigen Hals, kraulte sie wie ich es sonst immer getan hatte hinter ihren Ohren, doch es kam keine Reaktion mehr. Sie war von uns gegangen. "Nein... Nein. Nein!", weinte ich und hörte Tim, der sich neben mich kniete und Cora ebenfalls die letzte Ehre erwies. Er seufzte traurig: "Tut mir leid, dass ich dich nicht retten konnte, alte Freundin..."

Leises Rascheln und Fiepen ließ uns aufblicken. Die nassen Bündel begannen sich zu rühren, den letzten Resten der Fruchtblase zu entkommen und suchten verzweifelt nach den Zitzen ihrer Mutter. Wortlos machten wir uns an die Arbeit, wischten mit dem Stroh parallel zueinander die klebrige Flüssigkeit so gründlich wie nur möglich von den Ferkeln und setzten sie dann an Coras Bauch, sodass sie den bereits schaler werdenden Milchgeruch wahrnehmen konnten und sofort zu saugen begannen. Insgesamt neun Junge zählten wir, drei männliche, sechs weibliche Schweinchen. Doch über ihrer überstandenen Geburt lag der Tod ihrer Mutter wie ein finsterer Schatten, den sogar die Kleinen zu spüren schienen. Sie rückten näher zusammen, fiepten und suchten nach der schützenden Wärme.

Fragend schaute ich Tim an, er sah ratlos aus. Ohne Milch und jemanden, der sie warm hielt, würden sie nicht überleben, das wusste sogar ich. "Wir könnten versuchen, sie einer anderen Sau zum Säugen zu geben. Vielleicht wird Coco sie annehmen, einen Versuch ist es wert!"

Doch weder Coco, noch die andere Schweinedame nahmen die Findlinge auf. Sobald sie sich den Zitzen und somit der rettenden Milch nähern wollten, wurden sie auch schon aufgebracht wieder vertrieben. Mit jedem Anlauf schrumpfte unsere Hoffnung und mit ihr die Energie der Ferkel. Eines hatte sich seit wenigen Minuten schon nicht mehr gerührt. Verzweifelt stupste ich es ein wenig an und sah, wie es die winzige Nase in die Luft streckte und leise fiepte. Wir mussten doch irgendetwas für sie tun können!

"Es tut mir so leid, Stegi. So hatte ich mir das nicht vorgestellt", hauchte Tim niedergeschlagen, als ich aufstand und aus der Box rannte. Aber nicht, weil ich die Kleinen im Stich lassen wollte, sondern weil ich einen Einfall hatte, so schwach und realitätsfern er auch war. Auf dem Weg schnappte ich mir einen Eimer und riss dann Emmas Box auf. Die Kuh schaute mich verwundert an, während ich mich herunter zu ihrem Euter beugte und zum ersten Mal in meinem Leben ein Tier melkte. Neun Leben hingen davon ab, nachdem wir schon das zehnte hatten opfern müssen! Nach ein paar Sekunden hatte ich den Dreh raus, immer mehr Milch tropfte in den Behälter und sobald der gesamte Boden bedeckt war, sprintete ich zurück.

Tim saß noch immer im Stroh, hatte die zwei schwächsten Ferkel in seinen Schoß gebettet und streichelte sie abwechselnd. Fragend schaute er mich an, als ich keuchend zum Halten kam und den Eimer zwischen uns knallen ließ. "Schnell, gib mir eins von denen!", befahl ich, drehte den Stoff meines Oberteils zwischen meinen Fingern zu einer Spitze zusammen, tunkte ihn in die Milch und führte ihn zur Schnauze des Ferkels, dass Tim mir überreicht hatte. Erst reagierte es nicht und ich dachte bereits, dass es zu spät war, dann schnupperte es schwach und nahm den milchgetränkten Zipfel in den Mund.

"Natürlich... Du bist genial Stegi!" Durch meinen Erfolg hellte sich Tims Laune wieder auf, sofort machte er mit und fütterte sein Schweinchen, bis es sich wieder rührte und sogar mit dem winzigen Ringelschwänzchen wackelte. Viel zu schnell war die Nahrung an alle verteilt und noch immer bettelten sie um Nachschlag. Also rappelte dieses Mal Tim sich auf, verschwand für einige Zeit und kehrte mit einem beinahe halbvollen Eimer und einer weichen Decke zurück, in die wir die Ferkel wickelten, die wir gerade nicht versorgen konnten.

"Wenn die anderen sie auch später nicht annehmen werden, müssen wir uns immer weiter um sie kümmern", gab Tim irgendwann zu bedenken. Er sah furchtbar müde aus, aber ich wusste, dass er sich wenn nötig sein ganzes Leben um die Kleinen kümmern würde. "Du weißt, wie sie sich fühlen, richtig?", hakte ich nach und spürte, wie Tim sich neben mir verkrampfte. "Dann hat Molly dir alles erzählt?"

Ich verneinte: "Ich habe sie gefragt, was genau das Wort Bastard bedeutet. Bis jetzt weiß ich nur, dass entweder Molly oder ihr Mann nicht deine richtigen Eltern sind, mehr nicht. Den Rest solltest du mir erzählen, wenn du soweit bist, hatte sie gemeint."

Tim nickte dankbar, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Sie war eben nochmal hier und hat sich erkundigt, wo wir bleiben. Ich habe ihr gesagt, dass wir heute hier im Stall übernachten werden. Sie bringt uns gleich noch etwas vom Abendessen vorbei, so spät ist es schon wieder", murmelte er mit kratziger Stimme. Und sobald wir gegessen hatten und die Ferkel vorerst ebenfalls satt waren, erzählte er mir seine Geschichte.

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