POV Stegi
"Na kommt ihr Kleinen! Hierher, hier ist das Futter!"
Die neun Schweinchen kamen sofort angetrabt und grunzten gierig, als ich den Eimer schwenkte. Ich lächelte. Nach drei Monaten gingen sie uns mittlerweile bis zu den Knien, hatten ordentlich an Gewicht zugelegt und niemand hätte mehr auf die Idee kommen können, dass sie per Flasche aufgezogen waren und nicht mit der richtigen Milch ihrer Mutter. Ich schaute hinter mich und sah, dass Tim nicht mitlächelte. Er sah traurig aus. Hastig warf ich das restliche Gemüse zu den Ferkeln in den Stall und lief zu ihm. "Hey, was ist denn los?", fragte ich ihn und versuchte, ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, doch er wehrte ab. Unsicher schauten wir beide einander an.
"Du kannst dir sicher vorstellen, dass wir nie alle neun behalten können", hob er vorsichtig an, "dafür haben wir zu wenig Futter und zu wenige Boxen. Genauer gesagt, wir haben nur Platz für drei. Einen neuen Eber und zwei Säue. Such du dir bitte aus, wer bleiben kann, ich möchte das nicht entscheiden."
Erschrocken wich ich zurück. "Was?", platzte es aus mir heraus. Tim nickte nur niedergeschlagen. Ich riskierte einen Blick hinter mich auf die ganzen rosa Leiber, denen zurzeit die typischen Schweineborsten wuchsen und die jetzt noch angenehm weich wie Menschenhaare waren. "U-und wo kommen die restlichen hin? Auf andere Bauernhöfe? Werden wir sie irgendwann wiedersehen?", fragte ich hoffnungsvoll. Tim seufzte tief und rieb sich mit den Händen über sein gramerfülltes Gesicht. "Zwei können wir vielleicht abgeben. Aber die anderen werden wir mästen und irgendwann schlachten müssen. Ich hätte es dir schon früher sagen sollen, aber ich habs nicht übers Herz gebracht."
Durch seine Worte spürte ich, wie mir jemand sämtliche Freude aus meinem Körper pumpte. S-schlachten? Meine F-ferkel? Die Tim und ich gemeinsam großgezogen hatten?! Nein, das durfte nicht geschehen! Mit ausgestreckten Armen wich ich rückwärts, stieß mit dem Rücken gegen die Holztür und klammerte mich fest in die schmalen Rillen zwischen den Brettern. Wild schüttelte ich den Kopf, um Tim klarzumachen, dass er das nicht tun konnte. Lieber würde ich die Kleinen mit meinem eigenen Essen füttern, als dass sie irgendwann als Medaillons oder Keule auf meinem Teller landeten! "Das ist doch Wahnsinn!", schrie ich ihn an, als er seine Aussagen immer noch nicht als Scherz abtat. Auch seine Versuche, mich tröstend in seine Arme zu nehmen, scheiterten kläglich, weil ich ihm auswich oder seine Hände zurückschlug. Ich war ihre Mama und ich würde sie verteidigen! Alle!
Als Tim einsah, dass er so nicht weiterkam, wandte er sich mit hängenden Schultern ab. "In spätestens einer Woche brauche ich deine Entscheidung. Es ist nicht fair, aber es ist nötig für das Fortbestehen des Hofes!"
Erst als ich sicher war, dass er nicht nochmal wiederkam, öffnete ich zitternd die Box und drängte mich zu den Ferkeln ins Warme. Sie hatten aufgefressen und grunzten jetzt leise und durcheinander, als wüssten sie genau, welches Schicksal für sechs von ihnen soeben beschlossen worden war. Nacheinander hob ich sie alle hoch und drückte sie an mich. Doro, Sveni, Luzie, Honey, Miriam, Denny, Nelli, Charlotte und auch Markus. Ich würde sie nicht im Stich lassen!
POV Tim
Ich hatte es ja gewusst, was hatte ich erwartet? Dass Stegi Verständnis für etwas zeigte, was ich damals auch nicht verstanden hatte? Dass er ohne Reue und in Ruhe mit mir die drei größten und gesündesten Schweine aussuchte? Es waren sogesehen seine Kinder! Er hatte sie vor dem Tod gerettet, wir hatten ihnen Namen gegeben, sie gefüttert, gestreichelt, ich hatte Stegi sogar ihre Mama genannt! Natürlich würde er darum kämpfen, dass wir alle weiter aufzogen! Er erinnerte mich wirklich sehr mich selbst, damals als Molly noch das Schlachten der Schweine übernommen hatte.
"Welches von den Ferkeln hast du denn am liebsten?", hatte sie mich gefragt und ohne nachzudenken hatte ich auf Cora gezeigt und gelächelt. Sie wurde von ihren Geschwistern separiert, ich sorgte dafür, dass sie sich nicht alleine fühlte und eines Tages waren die anderen fett gefütterten Jungschweine plötzlich verschwunden. Als ich Molly gefragt hatte, war sie wie immer ehrlich zu mir gewesen. "Die mussten wir schlachten. Wir hatten nicht genug Platz für sie."
Ich hatte es auch nicht verstanden. Mehrere Tage hatte ich in Coras Box geschlafen aus Angst, dass Mutter irgendwann glaubte, die Sau sei auch überflüssig oder Platzverschwendung. Erst nach und nach hatte ich begriffen, dass das nunmal das Leben auf einem Bauernhof war und sich die Welt trotzdem weiter drehte. Mit fünfzehn Jahren hatte ich dann das erste Mal selbst das Metzgermesser führen müssen. Es war grausig, vor allem wenn man eine so starke emotionale Bindung zu den Tieren aufgebaut hatte. Und Stegi hatte die wohl stärkste Bindung zu den Ferkeln, die ich mir denken konnte. Das Gefühl, ihre Mutter zu sein.
Ich zermarterte mir den Kopf. Gab es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit, mehr als nur drei am Leben zu lassen? Den ganzen Abend grübelte ich bedrückt bei meinen Aufgaben, bis ich die Lösung hatte. Oder zumindest den Ansatz einer Idee.
"Stegi?", rief ich mit gedämpfter Stimme durch den Stall, obwohl ich genau wusste, wo er sich aufhielt. Als ich die Box erreicht hatte und über die Holzwand zu ihm hereinschaute, döste er gerade inmitten der Schweinerotte. Er schreckte hoch, legte schützend seine Arme um möglichst viele von ihnen und sah mich flehend an. "Bitte, tu das nicht! Ich würde das nicht ertragen!", wimmerte er leise, sodass es mir fast das Herz brach. Aber immerhin musste ich ihm keine schlechten Neuigkeiten überbringen. "Ich wüsste einen Ausweg, wie wir sie retten könnten", sagte ich so überzeugend wie möglich, obwohl noch nichts an meinem Plan so feststand, als dass ich es ihm hätte versprechen können. Seine traurigen Augen weiteten sich. "Wie?", brachte er heraus.
"Wir gehen morgen zu meinen Eltern und bitten sie um Geld! Das schulden sie mir, und zwar so viel, dass wir den Stall ausbauen und alle neun Schweine behalten können!"
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Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)
FanfictionMein Leben bei meiner schrecklichen Familie war nicht länger auszuhalten, also bin ich abgehauen, mitten in der Nacht, ohne Ziel und nur mit dem Wunsch, woanders von vorne anzufangen. Dass ich dadurch meine Bestimmung, meine Zukunft und einen echten...