31.

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"Molly! Tim ist da!", rief ich ins Haus, lehnte schnell die Mistgabel an die Wand und lief dem Auto ein Stück entgegen. Obwohl wir mit diesem großen Zerwürfnis auseinander gegangen waren, hatte ich ihn doch das eine oder andere Mal vermisst in den letzten Tagen. Sein vergnügtes Pfeifen im Stall zwischen den Boxen, seine neckischen Gespräche mit den Tieren und seine ausgelassene Stimmung am Essenstisch. Ohne ihn hatte sich der Hof leerer als sonst angefühlt, das konnte man einfach nicht leugnen.

Die Beifahrertür des Autos öffnete sich, Tim verabschiedete die Person am Steuer und sprang dann nach draußen, bevor der Wagen auch schon wieder davonbrauste. Unsere Blicke trafen sich, wir gingen aufeinander zu und blieben etwa zwei Meter voreinander stehen. Keiner von uns beiden wusste, wie er mit dem jeweils anderen umgehen sollte. Vor allem Tim hielt sich stark zurück mit seiner sonst so lässigen Körpersprache, es wirkte beinahe, als fühlte er sich fremd in seinem eigenen Zuhause.

"Schön dass du wieder hier bist!", begrüßte ich ihn irgendwann, lächelte kurz und streckte ihm meine Hand entgegen. Im nächsten Moment kam ich mir doof vor. Wer in unserem Alter schüttelte sich denn noch die Hände, ich hätte einfach winken sollen. Aber um einen Rückzieher zu machen war es jetzt schon zu spät, es würde bloß noch dämlicher aussehen, also hielt ich meinen Arm weiter ausgestreckt und schaute peinlich berührt beiseite.

Auch Tim betrachtete meine Hand zuerst mit einer Mischung aus Verwirrung und Belustigung, bevor er einschlug. "Danke man", murmelte er, dann lief er an mir vorbei und wurde von unserer Mutter an sich gezogen. Ihre Umarmung fiel besonders lange und intensiv aus. "Versprich mir, dass du mir nie wieder so einen Schrecken einjagst, junger Mann!", schimpfte sie, aber wir drei wussten ganz genau, wie froh sie über Tims Rückkehr war. Es war ein etwas seltsamer Anblick, wie Tim sich zu ihr herunterbeugen musste, damit Molly ihre Arme auf Schulterhöhe um ihn legen konnte. Beinahe kniete er schon, überglücklich blinzelnd und mit den Tränen ringend. „Ich hab dich auch schrecklich vermisst."

So hielten sie sich noch eine Weile fest, dann wandte der Junge sich wieder an mich: "Und, wie geht es den Tieren? Hast du dich um alles kümmern können oder gabs Probleme?"

Bevor ich ihm antworten konnte, drängte Molly sich dazwischen. "Du ruhst dich erstmal aus, du bist noch immer so furchtbar blass und mager! Stegi hat seine Aufgaben sehr vorbildlich erledigt, mach dir darum keine Sorgen!"

Jetzt wo sie es sagte, Tim sah wirklich noch nicht vollständig gesund aus. Aber mager? Naja, nicht so sehr, schließlich war er schon davor recht dünn gewesen, aber er schniefte auffällig oft und seine Wangen hoben sich rot von seinem Gesicht ab. Trotzdem tat er ihre fürsorglichen Worte ab: "Am meisten brauche ich jetzt die Stallluft und die Pferde. Ich war noch nie so lange von ihnen getrennt, der Rest kann erstmal warten!" In seinen Augen sah ich aber außerdem noch die stumme Bitte an mich, mit ihm zu kommen. Wollte er die Sache zwischen uns besprechen? ...Okay. Es wäre eh nicht gut, das unnötig weit hinaus zu zögern. Also holte ich seufzend Luft, nickte und versuchte Molly zu symbolisieren, dass ich auf Tim Acht geben würde.

Mit ein wenig Abstand zwischen uns machten wir uns auf den Weg in den Stall. Beinahe erwartete ich, dass Tim sofort mit seiner Entschuldigung ansetzen würde, aber tatsächlich drehte er erst eine Runde durch die Gänge zwischen den Boxen. Er grüßte Emma und inspizierte Kyle, der sich bei Tims Sturz so furchtbar erschrocken hatte, und dann erst erhob er das Wort an mich. „Stegi, bist du noch sehr sauer auf mich?"

„...Ja", grummelte ich. Wieso sollte das auch anders sein? Tim kratzte sich am Hinterkopf: „Kann ich verstehen. Ich... Das war komplett daneben von mir. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle und-, ja, und ich hoffe, dass mir das niemals wieder passiert!"

Stille. Ein paar Sekunden hoffte ich inständig, dass Tim noch seine Entschuldigung an mich hinzufügen würde. Aber das passierte nicht und als ich hörte, wie der Junge sich umdrehte und weitergehen wollte, platzte mir plötzlich der Kragen: „Das war es also?!"

„Huh?", fragte Tim erschrocken über meine laute Stimme. Auch Kyle neben uns schnaubte über den Krach, aber das war mir in diesem Moment egal. „Du vergewaltigst mich beinahe, zwingst mich zu Sachen die ich nicht machen will und kommst dann an mit 'Ich hoffe das passiert mir nie wieder'! Sollte das eine Entschuldigung sein? Denkst du, das macht alles wieder gut oder was?"

Mein Gegenüber zuckte betroffen zusammen. „N-nein, hatte ich nicht gedacht. Ich-"

„Dann mach es einfach, verdammt! Oder sag mir, warum du manchmal so komisch drauf bist! Na los, jetzt oder nie!"

„Okay." Tim schniefte laut und wischte sich mit den Hemdärmeln fahrig über seine rot gesprenkelten Wangen. „Es tut mir wirklich, wirklich leid! Ich wollte dich nicht verletzen. Ich kanns nicht mehr rückgängig machen, aber ich kann mich bessern! Bitte gib mir noch eine Chance und ich versuche alles wieder gutzumachen! Bitte!"

Das war schon besser von ihm gewesen. Aber eine Sache hatte er trotzdem außen vor gelassen. „Warum hattest du das dann gemacht? Was war los mit dir?"

„Das... kann ich dir nicht sagen. Sorry..."

Kurz starrte ich Tim noch ungläubig an, dann schnaubte ich: „Schön. Dann nicht. Ich kümmer mich jetzt um die Ferkel. Alleine!"

„Stegi..." Ich konnte ihm ansehen, wie heftig ihn meine letzten Worte getroffen hatten. Doch als Tim mir weiter folgen wollte, bannte ich ihn mit einem wütenden Blick. „Was war los mit dir??"

„Ich kann dir das wirklich nicht sagen. Das kann ich nicht! Es geht nicht, du würdest mich noch mehr hassen als jetzt schon!"

Fein, dann halt nicht. Wütend setzte ich meinen Weg fort und fauchte über meine Schulter zu ihm zurück: "Dann will ich nie wieder etwas aus deinem Mund hören, das mit dieser Nacht zu tun hat! Absolut gar nichts!"

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