41.

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Es war seltsam, die Straße entlang zu laufen, in der ich früher auch einmal gewohnt hatte. Ich hatte beinahe erwartet, die Nachbarschaft wiedererkennen zu müssen, aber dafür war ich dann doch deutlich zu jung gewesen. Tatsächlich wäre ich an dem Haus vorbei gelaufen, hätte Stegi mich nicht am Arm zurückgehalten und darauf aufmerksam gemacht. Es war ein Einfamilienhaus, zwei Etagen groß und mit einer unauffälligen beige-weißen Fassade. Aber es war trotzdem mein ehemaliges Zuhause, die Adresse stimmte mit der auf dem Zettel der Krankenschwester überein. Und auf dem Klingelschild stand Fam. Bau.

Tim Bau. Das war also mein voller Name. Etwas überwältigt musste ich mehrmals blinzeln, während ich diesen längst vergessenen Fakt verdaute.

"Na los, klingeln wir einfach!", meinte Stegi neben mir, der mein Zögern vielleicht mit Furcht verwechselte. Sein wachsamer Blick huschte wieder die Allee hoch und runter, obwohl keine Menschenseele unterwegs war. Was war los? Glaubte er, dass uns jemand folgte? Aber er hatte Recht, wir hatten nicht unendlich viel Zeit und standen immer noch vor der Haustür!

Schnell läutete ich, verdrängte die unguten Vorahnungen aus meinem Kopf und hörte nach wenigen Sekunden, wie sich auf der anderen Seite Schritte näherten. Es war mein Stiefvater, der uns öffnete, zuerst zu Stegi herunter schaute und dann zu mir auf. Ich überragte ihn um einige Zentimeter. Und das schien ihm nicht unbedingt zu gefallen.

"Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?", fragte er mit ähnlich tiefer Stimme wie meiner und ich konnte nicht anders, als zu staunen. Er hatte sich für sein Alter echt gut gehalten hatte. Kein Bauchansatz, keine grauen Barthaare, keine Falten im Gesicht. Er war ein durchaus attraktiver Kerl und ich konnte verstehen, warum meine Mutter ihn damals unbedingt zurück haben wollte.

"Guten Tag, dürfen wir kurz reinkommen? Ihr Sohn war vor einiger Zeit im Krankenhaus im selben Zimmer wie ich gewesen, er meinte, ich könne ihn mal besuchen kommen!", lächelte ich ihn freundlich an. Der Ausdruck meines Gegenübers hellte sich etwas auf. "Ach, dann sind Sie... Tim, richtig? Freut mich, Konstantin Bau."

Nach einem festen Händedruck wurden wir eingelassen und Herr Bau führte uns ins Wohnzimmer, in dem Tobi gerade mit einer riesigen Ansammlung aus bunten Plastiksteinen spielte. Lego, las ich auf einer Verpackung neben ihm. "Tobi, guck mal wer dich besuchen kommt!", grinste sein Vater. Er drehte sich zu uns um und sprang sofort auf, als er mich erkannte. "Hallo Tim!", rief er und schlang seine Arme mich. Vorsichtig strubbelte ich meinem Halbbruder im Gegenzug durch das kurze braune Haar. Es war unglaublich, wie ähnlich wir uns bei genauerer Betrachtung sahen, trotz verschiedener Väter.

"Wir-, also Stegi und ich sind aber noch aus einem anderen Grund hier, Herr Bau. Ist zufällig auch Ihre Frau im Haus? Wir müssten uns-!"

"Was sucht der denn hier?", unterbrach mich eine schneidende Frauenstimme in diesem Moment. Meine Narbe prickelte wieder, schon bevor ich ihr meinen Kopf zuwandte wusste ich, dass sie es war. Meine Mutter stand mit einer Kaffeetasse in den Händen im Eingang zur Küche, das Porzellan bebte leicht in ihren zitternden Händen. Aber alles andere an ihrer Körpersprache wirkte abweisend mir gegenüber. Hätte sie uns die Tür geöffnet, wären wir niemals bis ins Wohnzimmer gekommen.

"Tobi, zeigst du mir vielleicht mal dein Kinderzimmer? Ich wäre gespannt wie viel Spielzeug du hast!", meldete sich Stegi plötzlich dazwischen. Er hatte gut mitgedacht, direkt vor Tobi hätte ich nur ungern angefangen, meine Eltern herauszufordern.

Herr Bau war am meisten irritiert von uns allen, fragend schaute er um sich auf der Suche nach Antworten. Am wachsamsten war aber sein Blick auf Tobi, der begeistert mit dem völlig fremden Jungen quatschte und in ein angrenzendes Zimmer verschwand. Dann war ich alleine mit der Familie, die mich vor über fünfzehn Jahren verstoßen hatte. Ich schluckte nervös. "Also... hi. Ich bin wieder hier. Ich hab überlebt. Und ich habe ein Problem, bei dem ihr mir helfen müsst!"

Von meiner Mutter kam ein kurzer, erschrockener Laut, als ich ihre schlimmste Vermutung bestätigte. Und auch mein Stiefvater schien jetzt auf die richtige Fährte zu kommen. Seine Augenbrauen verengten sich: „Moment, Tim...? Der Tim? Aber-!" Ich nickte. Der Tim.

Herr Bau sah überrascht zu seiner Frau hinüber, deren Haut eine schneeweiße Farbe angenommen hatte, während ihre Gesichtszüge in einer Mischung aus Angst und Wut bebten. "Ist das wahr Liebling? Du hattest mir erzählt, er wäre schwerkrank geworden! Dass die Ärzte nichts mehr für ihn tun konnten!" Er wurde nicht laut, aber ich spürte deutlich, wie verärgert er war. Zuerst war sie ihm fremd gegangen und dann hatte sie ihn auch noch angelogen, um ihn zurückzubekommen. Das war ein harter Schlag, für beide. Meine Mutter musste sich auf die Couch fallen lassen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

"Deswegen bin ich aber gar nicht hier. Ich bin glücklich in meinem neuen Zuhause und habe eine liebevolle Familie. Aber wir brauchen Geld für einen Notfall. Mehr als wir verdienen können. Wir-"

Ich wurde unterbrochen. Frau Bau war von ihrem Platz aufgesprungen, obwohl sie bedenklich schwankte, völlig aufgelöst begann sie zu schreien: „Verschwinden Sie! Sie kommen hierher, lügen uns an und betteln dann auch noch um unser Geld? Was erlauben Sie sich, Sie-, Sie-!"

„Soll ich dir erst die Narbe zeigen, damit du mir glaubst?", gab ich mit lauter, scharfer Stimme zurück, bevor ich mich stoppen konnte. Sie wusste bereits, dass ich die Wahrheit sagte und versuchte sie um jeden Preis zu verdrängen. Aber durch meine heftige Reaktion spürte ich jetzt den stechenden Blick von Konstantin auf mir. Ich musste aufpassen, sonst warf er mich und Stegi raus.

„Entschuldigung. Ich weiß, es ist kein schöner Grund für einen Besuch. Aber wir brauchen es." Ich holte tief Luft. "Wir brauchen zehntausend Euro. Nicht jetzt sofort und auch nicht alles auf einmal, sagen wir-"

Wieder wurde ich unterbrochen, aber dieses Mal von Tobi, der seine Zimmertür öffnete und fragend zu uns schaute: „Ist alles gut? Ihr seid so laut!"

„Alles gut", lächelte sein Vater angestrengt und winkte Stegi heran, dessen Kopf im Türspalt über Tobis aufgetaucht war. „Spiel ruhig weiter, wir müssen uns hier noch ein wenig unterhalten."

Er dachte also wirklich darüber nach, uns etwas zu geben? Das war großartig, ich hatte schon befürchtet, die Summe hätte ihn abgeschreckt! Stegi kam ebenfalls überrascht näher, vorbei an meiner Mutter, die kreidebleich wieder auf die Couch gesunken war und die Hände so fest miteinander umklammert hielt, dass ihre Finger fleckig weiß und rot wurden.

Kaum dass mein Freund in die ungefähre Reichweite meines Stiefvaters geraten war, tat der einen Schritt auf den Kleinen zu und packte ihn am Ohr, bevor einer von uns reagieren konnte. Stegi quiekte auf vor Schmerz, so fest drückte der Mann zu. „So, genug mit dem Unsinn. Ihr verschwindet jetzt. Ich will eure Gesichter nicht noch einmal hier sehen, ist das klar? Und haltet euch von Tobi fern, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun!"

Als ich zwischen die beiden gehen wollte, um Stegi zu befreien, bekam Constantin mich am Oberarm zu fassen und zerrte uns mit sich Richtung Haustür. Es ging so schnell, dass ich mich nicht einmal dagegen wehren oder etwas sagen konnte.

Kaum dass er uns über die Schwelle befördert hatte, hörte ich auch schon das Klicken des Schlosses und wir waren ausgesperrt. Die Chance war geplatzt und wir waren hier nicht mehr willkommen. Ich hatte mich aber auch ungeschickt angestellt! Stegi rieb sich sein schmerzendes Ohr. "Verdammt...", murmelte er traurig.

Aber so schnell wollte ich mich noch nicht geschlagen geben. Meine Mutter hatte mich zum Sterben im Wald zurück gelassen und wenn sie das nicht freiwillig wieder gutmachen wollte, würden wir einen anderen Weg finden müssen, um sie weich zu kriegen. So würden sie auf jeden Fall nicht davon kommen! "Sie wissen die Wahrheit. Wenn sie nicht freiwillig mitmachen, dann werden wir sie halt zwingen. Wir retten die Schweinchen, versprochen!"

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