Kapitel 26

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Ob er den selben Schmerz wie ich fühlt?

Ich nehme, als der Abspann läuft, die CD aus dem Laufwerk, sehe überprüfend zu meiner Mutter, die mir aufmunternd zu nickt.
,,Ich werde mich fertig machen, ich habe heute Nachtschicht im Krankenhaus", erklärt sie mir, erhebt sich vom Sofa und geht die Treppe rauf.
Nachdem sie dann gegangen ist und ich sie verabschiedet habe, sehe ich wieder auf mein Handy. Immer noch nichts. Wieso berichtet er mir nicht, wie das Gespräch gelaufen ist?
Gab es überhaupt ein Gespräch?
Sicherlich, Nick wird nicht so kindisch sein und sich nach meiner Ansage mit ihm prügeln, richtig?
Ich atme tief durch, wie so oft schon heute, um Kraft zu schöpfen und bewege mich in mein Zimmer, wo ich mir die Haare durchkämme. Gerne hätte ich längeres Haar, aber ich glaube dieser Long-Bob gefällt Nick. Zumindest habe ich ihn dabei erwischt, wie er sich meine Haare genauer angesehen hat, schon im Kiosk war er so aufmerksam.
Was ist nur aus ihm geworden oder war er immer schon so?
Und erneut hat sich Nick einfach so in meine Gedanken geschlichen. Wie schafft er das nur immer?

Darauf folgend stelle ich mich vor meinen Spiegel und betrachte mein ich. In diesem Spaghetti-Träger-Top sehe ich zarter aus, als ich eigentlich bin, aber die Jogginghose trägt etwas auf.
Mit meinen Händen fahre ich über meinen Kiefer. Mein Gesicht könne schmaler sein. Soll ich jetzt in Selbstmitleid ertrinken, verflixt nochmal, Emily, hör auf damit!

Ich bin gerade dabei mir die Zähne zu putzen, als ich die Haustürklingel läuten höre. Meine Mutter ist noch auf der Arbeit und es ist schon 23:00 Uhr. Wer will denn jetzt noch was von mir?
Genervt stapfe ich die Treppe herunter, während ich mir eine Sweatshirtjacke überziehe und sie offen hängen lasse.
,,Oh mein gott!", platze ich heraus, ehe ich Nick vor mir sehe. ,,Das ist nicht dein Ernst?!"
Der will mich doch komplett verarschen?
,,Du hast dich mit ihm geschlagen? Das, anstatt euch auszusprechen?", frage ich und halte die Jacke durch verschränkte Arme vor der Brust zusammen, damit ich nicht friere.
,,Ich werde mich nicht mit ihm versöhnen", lallt er und lehnt sich vor mir in den Türrahmen.
,,Oh wow. Glückwunsch, jetzt bist du auch noch richtig betrunken?", verhöhne ich ihn und hätte ihm an liebsten von mir weggestoßen, weil er mir so nahe kam, als er sich in die Tür gestützt hatte.
,,Komm rein", murre ich und winke ihn an mir vorbei. Lässig lässt er sich auf das alte Ledersofa fallen.
,,Ich würde gerne wissen wieso", sage ich ernst, suche nebenbei ein Kühlpack im Kühlschrank.
,,Wieso soll ich es dir erklären?"
,,Wieso bist du dann hier?", antworte ich genauso frech und sehe ihn mit einer gewölbten Augenbraue an.
Stille.
Von der offenen Küche aus, werfe ich ihm das Kühlpack zu und tatsächlich hat er es gefangen. Bei seinem Zustand hätte ich es ihm nicht zugetraut.
,,Warte hier, ich hole Desinfektionsmittel", erkläre ich, er sieht mich kühl an, nickt, um zu signalisieren, dass er es gehört hat und dann gehe ich ins Badezimmer.
Oben schließe ich im Bad die Tür hinter mir, lehne mich an diese und muss durch atmen. Warum? Warum? Warum? Warum zur Hölle macht er so einen Mist?!
Schnell versuche ich mich zu fangen, weiterhin kühl zu ihm zu sein, nehme mir die Flasche und ein paar Papiertücher.
Als ich wieder im Wohnzimmer stehe hält er ein Familienfoto in der Hand.
,,Finger weg", ermahne ich ihn und er stellt es langsam wieder zurück.
,,Setz dich hin", er tut es und ich setze mich vor ihn.
Während ich seine Wunden an seinen Fingerknöcheln versorge redet er kein Wort mit mir. Ich ebenfalls keines mit ihm.
Ich schiebe mit meiner Hand das Kühlpack aus seinem Gesicht, welches er sich an die Wange hält und desinfiziere auch einmal dort die Kratzer. Er zuckt aprubt zurück, als ich das angefeuchtete Tuch auf seine Haut lege und aus mir rutscht sofort ein ,,Entschuldige" Und das leider voller Gefühl. Mitleid, Reue und all das.
,,Hab dich nur verarscht", grinst er zufrieden, aber meine Miene wird nur noch grimmiger als zuvor.
,,Ha-Ha", was er nur für ein Witzbold ist. Ich lache mich tot. Erneut fahre ich mit dem Tuch über seine Wange, doch er stoppt mich vorsichtig in der Bewegung, weil er seine Hand auf meine legt, sie festhält, umschließt mit seiner.
,,Du bist so schön", murmelt er und leider werde ich sofort rot, kann mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
,,Ich will dich küssen", lallt er danach und kommt meinen Lippen näher. Diese unfassbar schönen Lippen nähern sich meinen an. Sie sehen so weich aus und..und moment mal?!
Ich stoße ihn zurück ,,Hör auf!", zische ich und er wirkt deutlich verwirrt.
,,Was denn?"
,,Was denn?", äffe ich ihn nach ,,Du kannst hier nicht einfach aufkreuzen und so tun als ob alles toll wäre. So läuft das nicht, Nick"
,,Wie soll es dann laufen? Ich weiß das du mich magst" Ich erkenne dieses betrunkene, selbstgefällige Lächeln auf seinen Lippen gar nicht wieder. Es sieht so fremd aus, so schrecklich fremd.
,,Ich erkenne dich nicht mehr wieder", mit einem Satz stehe ich vom Sofa auf, um ihn nicht so nah sein zu müssen.
,,Was redest du denn? Ich bins doch", sagt er einfach so heraus ohne wirklich zu verstehen, was ich überhaupt meine.
,,Du bist viel zu betrunken für dieses Gespräch", will ich ihn abweisen, aber so leicht macht er mir es nicht. Auch er erhebt sich von der Couch, kommt mir wieder genauso nah wie zuvor.
,,Ich mag dich, Emily"
,,Hör jetzt auf damit", warne ich ihn erneut und lege meine Hand auf seine Brust, um Abstand zwischen uns zu bewahren.
,,Du bist mir wichtig"
,,Achja?", ich fange an leise zu lachen ,,Okay, das war jetzt witzig. Denn, wenn du mich tatsächlich so mögen würdest und ich dir so wichtig wäre, hättest du dich nicht mit Ray geprügelt, nachdem ich dich gebeten habe das zu klären. Du hättest mich nicht sitzen lassen, stattdessen mit mir geredet. Du hättest nicht auf nett gemacht um mir zwischendurch mit deiner schrecklichen Seite einen reinzuwürgen. Das tut man nicht, wenn jemand einem was bedeutet, Nick. Sowas tut man nicht!", ich bin so hoch gekocht, dass ich gar nicht merke wie mir Tränen in die Augen steigen.
,,Weine nicht wegen mir", befielt er mit schroffen Ton, doch ich weiß ja wie er es meint.
Erst jetzt wische ich mir die Tränen weg und sehe ihn hart an.
,,Es hätte nicht dazu kommen müssen und jetzt geh", befehle ich ihm, anstatt seinem Befehl nachzugehen.
,,Wenn du meinst. Gut, dann gehe ich" Und als er mich so ansieht könnte ich auf der stelle einen Herzanfall bekommen. Er sieht mich so an, als hätte er gerade alles von uns verdrängt. Er hat verdrängt wie wichtig ich ihm doch angeblich bin. Keine Gefühle.

Es scheint nur noch seine leere, kühle Hülle übrig zu sein.

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