Adoleszenz

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„Ich find's voll ätzend hier", maulte Liv, als sie endlich mit ihrem Zwillingsbruder alleine war. Dieser nickte nur zustimmend in ihre Richtung, während er den großen Koffer missmutig mit dem Fuß umwarf und dann geräuschvoll den Reißverschluss aufzog. Er fischte einen Stapel T- Shirts aus dem Sammelsurium und wandte sich an seine Schwester: „Wie immer?"
Diese knurrte wie eine aggressive Katze und machte dann widerwillig Platz, damit Liam sich auf der linken Seite des schäbigen Bauwagens einrichten konnte. Eine Weile sah sie ihm verärgert dabei zu, dann überwand sie sich und räumte ihre eigenen Sachen aus dem gemeinsamen Koffer, in die Kommode auf der rechten Seite.
Der Bauwagen bot einen stereotypischen Anblick.
Abgewetzte, speckige Holzdielen und zwei winzige Betten, zwischen denen nur ein schmaler Durchgang frei blieb. Dahinter ragten klobige, altmodische Kommoden auf, die einen unbestimmten Geruch nach Alter und Staub verströmten. Die Schubladen klemmten, die Türen schlossen nicht richtig, die Betten knarzten und bei jedem Schritt murrten die Holzdielen. Zu allem Überfluss war der kleine Ofen, der als Heizung diente, noch nicht befeuert worden und so lagen die Temperaturen jenseits von allem, was die Geschwister als angenehm bezeichnet hätten. Ihr Atem zeichnete sich als Nebelwölkchen in der Luft ab, die Jacken hatten sie gar nicht erst ausgezogen. Zwei winzige Fenster starrten blind und Raureif überzogen in die beginnende Abenddämmerung.
Liv stöhnte genervt alle paar Minuten auf.
Ihr Bruder war längst mit seiner Arbeit fertig und lümmelte sich gelangweilt auf seinem Bett, das im Takt mit seinen wippenden Füßen knarrte. Gebannt starrte er auf sein Handy. „Hier gibt's nicht mal Netz, vom Internet ganz abgesehen. Wir sind am Arsch der Welt."
„Warum mussten wir denn unbedingt her kommen? Hätten Mamas Verwandte nicht zu uns kommen können?", sie schnaubte, „Weihnachten in der Walachei, ich könnte ausrasten", Liv trat die Kommodentür mit dem Fuß zu, ließ sich rücklings auf ihr eigenes Bett fallen und setzte ihre Beschwerde fort: „Die haben sich doch eh nicht verstanden, warum müssen die dann ausgerechnet Weihnachten aussuchen, um sich wieder anzunähern," Liv äffte ihre Mutter nach, „Aber Weihnachten ist das Fest der Familie und wir sind das erste Mal bei meiner Sippe eingeladen. Das dürfen wir nicht ausschlagen, wer weiß, wann sie das nächste Mal in Deutschland sind."
Liam sog scharf die Luft ein. Er mochte es nicht, wenn seine Schwester sich absichtlich in den Frust hineinsteigerte.
Liv trommelte wütend mit den Füßen gegen das Bettgestell.
„Papa hatte so Recht, dass die Idee scheiße ist. Weihnachten ist ruiniert." Sie dachte an den Streit zurück, der entbrannt war. Es war ein heftiger Streit gewesen, laut und voller Beschimpfungen. Sonst hatten sich die Eltern der Zwillinge immer erst dann gestritten, wenn sie dachten, dass Liv und Liam schliefen, halblaut im Wohnzimmer, mit geschlossener Tür, damit ihre Kinder nichts hörten. Doch Wände und Decken waren dünn und die Zwillinge hatten oft den Streitgesprächen gelauscht, auch wenn sie nur einzelne Worte verstanden hatten.
„Komm, wir gehen mal raus", schlug Liam vor, um seine Schwester auf andere Ideen zu bringen, „Vielleicht gibt es hier was Interessantes zu entdecken."
„Na da bin ich aber gespannt", antwortete sie sarkastisch, „Wenn du was Interessanteres als alte Zirkusrequisiten findest, bin ich gewillt meine Meinung zu überdenken."
Draußen biss ihnen die Kälte in die Wangen.
Auf einer schneebedeckten Wiese standen mehrere Bauwagen zu einem Kreis angeordnet, die genauso schäbig wirkten, wie jener, den sie grade verlassen hatten. Im Zentrum des Kreises hatten die Schausteller ein rundes, abgenutztes Zelt aufgebaut, das wenig einladend aussah, mit den unzähligen Flicken und altersbedingten Verfärbungen der Plane. Es war das kleinste Zirkuszelt, das die Geschwister je gesehen hatten, im Innern konnten sich höchsten 50 Besucher um eine winzige Manege quetschen. Die Sonne lugte grade noch purpurrot über das Zeltdach und malte einzelne Wolkenfetzen des klaren Himmels violett an.
Links plätscherte ein Fluss vorbei, rechts begann ein lichtes Wäldchen, in den ein kleiner Trampelpfad führte. Ein grünes Schild erklärte, dass es sich um ein Vogelschutzgebiet handelte.
„Ich wette, es ist gar nicht erlaubt hier zu campen", kommentierte Liv ungefragt, deren schlechte Laune ihren Sinn für die Schönheit des Sonnenuntergangs trübte. Liam stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen und deutete auf den Eingang des Zeltes, der sich halb rechts von ihnen befand.
Ein großer, muskulöser Mann mit beachtlichem Schnauzbart und trotz der winterlichen Temperaturen nur mit einem Muskelshirt bekleidet, war dort aufgetaucht, streckte sich in der kalten Luft und stapfte gemächlich durch den knirschenden Schnee zu einem Bauwagen, der sich außerhalb ihrer Sicht befand. Um Weihnachten pausierten die Vorstellungen und das Chapiteau diente den Schaustellern als Gemeinschaftsraum.
Die Geschwister grinsten sich an und schlurften zum Zelt herüber.
Im Innern war es gleichzeitig warm und zugig.
Mehrere Heizpilze mühten sich, die permanent nachströmende, eisige Luft zu erwärmen.
Eine Bierzeltgarnitur nahm die Mitte des Zeltes ein, die Schausteller saßen im Kreis, lachten und tratschten auf einer Sprache, die die Geschwister nicht verstanden.
Eine provisorische Küche dominierte einen Teil der Wand, daneben stapelten sich große Holzkisten und allerlei Ausrüstungsgegenstände. Im Anschluss war ein Bereich für Nutztiere abgegrenzt, mehrere Ziegen, ein Alpakahengst mit zwei Stuten blickten träge durch das Zelt. Im Hintergrund stand ein Käfig, der sechs Kaninchen beherbergte.
Es roch nach Stroh, Streichelzoo und Gewürztee.
Liv entdeckte ihre Mutter in der Gruppe der lachenden, tratschenden Schausteller, jetzt fiel ihr auch auf, dass hier nur die Frauen saßen.
Liam hatte diesen Umstand gleichsam registriert. Das stille Verständnis, das die Zwillinge verband, war noch immer sehr stark, wenngleich es nicht mehr so ausgeprägt war, wie in der frühen Kindheit.
„Hallo Mama", sagten sie, wie aus einem Mund.
Lachend drehte sich Flora zu ihren Kindern um. Rotes, lockiges Haar flog dabei durch die Luft, wie Flammen, die den Kopf umkränzten.
„Habt ihr schon ausgepackt? Ihr seht durchgefroren aus, nehmt euch einen Becher Tee", sagte sie und deutete auf eine riesige bauchige Kanne, die in der Mitte der Gruppe, auf einem noch größeren Stövchen stand und vor sich hin dampfte.
„Wo ist Papa?", wollten die Zwillinge wissen.
Ein Schatten glitt über das freundliche Lächeln, dann meinte sie schroff: „Der ist bei den anderen Männern. Wahrscheinlich spielen sie Karten", mit einer entschuldigender Geste fügte sie hinzu: „Gönnt ihm etwas Ruhe. Setzt euch."
Die Zwillinge wurden von den anderen Frauen auf die Bänke gezogen, man reichte ihnen Tee und die angeregten Gespräche wurden lauter. Liv und Liam hatten das unangenehme Gefühl, dass man über sie sprach, aber sie konnten der Unterhaltung nicht folgen. Ihre Mutter rief etwas in der fremden Sprache, was für allgemeine Heiterkeit sorgte und die Zwillinge blickten sich verstohlen an, während sie an ihren Bechern nippten. Der Tee schmeckte so scharf und würzig, wie er roch.
Plötzlich quetschte sich eine alte, korpulente Frau durch die Mitte und baute sich vor ihnen auf. Sie trug ein knöchellanges, rotgemustertes Kleid, um die Schultern hatte sie ein gestricktes Dreiecktuch geschlungen. Die Haut war von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen, die grauen, langen Haare waren zu einem unordentlichen Knoten gebunden, aus dem sich einzelne Strähnen lösten und wirr ins Gesicht hingen. Aber die Augen blitzen aufmerksam und schienen jede Kleinigkeit wahrzunehmen.
„Das sind also deine Kinderchen, Florica", sagte sie, während ihr Blick weiter auf den Zwillingen ruhte. Sie rollte auffallend stark das „R".
Liv kam die Alte wie eine lebendig gewordene Märchenhexe vor. Aus dem Augenwinkel sah sie Liam flüchtig grinsen und wusste, dass er den gleichen Gedanken hatte. Flora strahlte die Märchenhexe an.
„Wiliam und Livana", sie nahm die beiden sanft in den Arm, „Das ist meine Großmutter Estera."
Die Märchenhexe lächelte breit und zahnlückig, dann taxierte sie die Zwillinge. Der Blick der alten Frau war ihnen unheimlich. „Ihr seht gelangweilt aus", sagte sie.
Die Geschwister wollten protestieren. Obgleich es natürlich der Wahrheit entsprach, wollten sie sich vor den Gastgebern so eine Unhöflichkeit nicht erlauben. Beiläufig bemerkten sie, dass ihre Mutter von der anderen Seite schon wieder in ein Gespräch verwickelt worden war und keine Partei für sie ergreifen konnte.
Die Märchenhexe machte eine beschwichtigende Geste: „Ihr müsst euch nicht dafür schämen. Ihr seid jung und aus der Stadt. Ihr habt keine Ahnung, was ihr hier mit eurer Zeit anfangen sollt. Aber Zeit haben wir um diese Jahreszeit mehr als alle anderen Menschen auf der Welt. Vielleicht-", sie machte eine Pause, als müsse sie überlegen, „-habt ihr Lust auf ein Kartenspiel?"
Die Gesichter der Zwillinge blickten fragend zurück.
„Es ist ein sehr altes Kartenspiel. Eure Mutter und die Mutter eurer Mutter hat es ebenso gespielt, wie ich, oder meine Mutter und die Mutter meiner Mutter."
Auf den fragenden Gesichtern zeichnete sich deutliche Skepsis ab.
„Kein Grund für ein vorschnelles Urteil!", kommentierte die Alte und rollte das „R" besonders stark, „Ein Spiel, das so lange gespielt wird, kann nicht schlecht sein, sonst würde es ja keiner spielen wollen!"
Bevor die Märchenhexe ihnen die gesamte Ahnenreihe aufzuzählen begann, stimmten die Zwillinge zu: „Na gut", sagten sie, wie aus einem Mund, „Das Kartenspiel bekommt eine Chance."
Bei dem Stichwort „Kartenspiel" drehte sich Flora ruckartig um und warf der Alten einen zweifelnden Blick zu: „Estera, gib ihnen noch nicht das Kartenspiel. Wir sind doch grade erst angekommen und die Kinder müssen sich noch eingewöhnen. Lass ihnen Zeit bis morgen, sie wissen doch noch gar nicht Bescheid."
„Schnickschnack", antwortete die Alte, „Kinder sind anpassungsfähig, Eingewöhnung ist für alte Menschen." Sie lachte meckernd, „Du kannst nicht von ihnen verlangen, sich den ganzen Abend bei uns zu langweilen, oder hast du vergessen, wie gern du es selbst gespielt hast? Du warst zehn, ich erinnere mich genau." Sie grinste wissend und bahnte sich einen Weg aus der Mitte der tratschenden Weiber. „Folgt mir, ihr könnt in meinem Wagen spielen." Wieder lachte die Alte meckernd.
Liv und Liam wechselten einen Blick. Flora wurde grade von einer Sitznachbarin durch die lockige Mähne gewuschelt, während mehrere Frauen quietschend lachten und Kommentare in der fremden Sprache riefen.
Entweder konnten sie hier rumsitzen und sich langweilen, oder der alten Frau den Gefallen tun und dieses steinalte Kartenspiel ausprobieren, das offensichtlich über Generationen in der Familie vererbt wurde, weil es unsagbar unterhaltsam war.
Sie entschiedenen sich für letztes.

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