Ritual des Schlaflosen

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Endlos finstere Nacht. In deinen Augen scheint deren bewölkter Himmel in unmenschlich Rot getaucht worden zu sein. Deine Schritte beschleunigen sich stetig. Steigern sich ins fluchtartige Sprinten. Die kalte Luft peitscht dir unangenehm ins Gesicht. Deine nackten Füße fühlen sich in jedem weiteren Moment tauber an. All das wird von deinem Adrenalin überdeckt. Dein einziges Bestreben ist es, vor diesem Mann zu flüchten. Gegen ihn zu kämpfen wäre dein sicherer Untergang. Das alles nur, weil du ihm begegnen wolltest.  Du bist ja so naiv gewesen.

Früher am Abend
Du hast im Internet von diesem Mann gelesen. Die angeblich erfundene Geschichte eines jungen Serienmörders. Einer verlorenen Seele, deren Abgrund zwar tief ist, doch dort nicht zur Gänze versunken zu sein scheint. Seit jeher zieht es dich selbst zur Dunkelheit der Welt. Bist fasziniert von allem morbiden Diesseits.  Jener Mörder hat innerhalb seiner Geschichte auch Gutes getan. Je weiter du in dessen Geschichte eingetaucht bist, desto inniger stieg dein Wunsch ihm zu begegnen. In gewisser Weise  kannst du dich mit seinem andersartigen Charakter identifizieren. Du hast sogar mit dem Autor seiner Geschichte geschrieben. Hast ihm deinen innigsten Respekt gezollt. Wolltest wissen, wie er auf die Idee zu seiner Schöpfung gekommen ist. Dann hat er dir etwas gesagt, was dich vollkommen in Euphorie versetzt hat. Dieser Autor sagte dir, dass seine geschriebene Geschichtsfigur realer ist, als du es dir vorstellen könntest. Er hat dir erklärt, dass der Mörder seine dunkle Seite widerspiegelt. Es solle eine Möglichkeit geben, ihn zu kontaktieren. Aus der Dunkelheit des Menschen hervorzubringen. Detailliert hat er dir vor einigen Tagen, zugegebenermaßen nach einigen Überredungsversuchen deinerseits, erklärt, wie er herbeizurufen ist.

Endlich ist es soweit. Bei dir Zuhause sitzend, hast du alles vorbereitet, deine Wunschbegegnung zu dir kommen zu lassen. Mit drei schwarzen Kerzen, einem Blatt Papier, Bleistift, Feuerzeug und deinem eigenen Foto auf deinem Boden ausgebreitet, bist du endlich bereit, deinem Ziel einen gewaltigen Schritt entgegenzutreten. Die Kerzen stellst du im Dreieck vor deine geschlossene Zimmertür. Penibel achtest du darauf, dass nichts Brennbares in der unmittelbaren Nähe zu finden ist und, dass die Kerzen fest stehen. Eine nach der anderen zündest du an. Das Foto, welches dich lächelnd zeigt, legst du in die Mitte des eben entstandenen Dreiecks. Mit jedem Arbeitsschritt, beginnt dein Herz wilder zu schlagen. Deine zarten Hände zittern wie Espenlaub. Es legen sich, trotz jener Aufgeregtheit, Zweifel über die Wirksamkeit deines Handelns. Mit einem heftigen Kopfschütteln wirfst du all diese störenden Gedankenhindernisse ab und fährst mit deinen Vorbereitungen fort. Du kannst es kaum erwarten, dass ER leibhaftig vor dir steht. Auf das Blatt schreibst du in großen Druckbuchstaben, mittels deines Bleistiftes, den Namen des Objekts deiner Begierde. Auf deinen aufgeregten Händen bildet sich Schweiß. Mit zittriger Stimme liest du deinen Ritualtext vor. "Im Dunkel der Nacht, über uns der Schlaflose wacht. So lad ich dich ein, in mein finsteres Heim. Strecke deine kalte Hand - Nimm alles Leben als Pfand".

Als du endest, wartest du einige ewigwirkende Sekunden ab. Horchst genauestens in die Stille deines leeren Zuhauses hinein. Deine Eltern sind heute Abend auf irgendeiner Tanzveranstaltung. Keine auffälligen Geräusche, die das Eindringen eines Fremdlings ankündigen würden. Noch einige  Zeit lang sitzt du vor dem leuchtenden Dreieck und hoffst zutiefst, dass doch noch etwas geschieht. Doch nichts passiert. Du stellst frustriert fest, dass dich dieser Autor lediglich an der Nase herumgeführt hat. Sich wahrscheinlich gerade bei seinen Autorenkollegen über dich kaputtlacht. Hastig pustest du die Kerzen aus, schaltest dein Licht wieder an und räumst mit einer Mischung aus Wut und Trauer dein Zimmer auf. Entschlossen beschließt du, dass du diesem Arschloch von Autor morgen ordentlich die Meinung geigen wirst. Als deine Aufräumaktionen enden, beginnst du in regelmäßigen Abständen ausgiebig zu gähnen. Deine Handyuhr zeigt dir 21:15 an. Ungewöhnlich früh für dich, um so müde zu sein. Schulterzuckend schaltest du dein Licht aus und legst dich in dein Bett. Umso besser, denn je eher du schläfst, desto eher kannst du diesem Autor alles an seinen arroganten Kopf knallen.

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