Kapitel 7

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"Sh...Shi...Shinji...kun? Wa... Was is..t pa...passiert?" Shinji-kun sitzt mit dem Kopf in den Knien vergraben in einen heillosen Chaos, das mal sein Zimmer gewesen war. Ich schlucke. "Shin...Shinji-kun?" versuche ich es erneut. Er zuckt zusammen. Sein Kopf dreht sich langsam in meine Richtung. Er sieht noch schlimmer aus als sonst. Auf seinen Wangen sieht man deutlich getrocknete Tränen. Ich gehe langsam auf ihn zu und setze mich auf meine Knie. Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter. "Möchtest du darüber reden, was passiert ist? Oder soll ich dir meine Notizen hier lassen und dich weiter allein lassen?" frage ich leise. Er schüttelt nur den Kopf. Sein Anblick zerbricht mir das Herz. Was muss passieren, damit ein 17-jähriger so traurig und verletzt ist?

Plötzlich umarmt er mich. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und die ersten Tränen machen meine Schuluniform nass. Ich streiche ihm beruhigend über den Rücken und warte, bis er sich wieder beruhigt hat. Plötzlich fängt er an zu reden. Seine Stimme ist weinerlich und brüchig: "Vor genau 10 Jahren, am 21. April 2007, hatte meine Mutter ihre dritte Fehlgeburt. Seitdem hat sie viel Alkohol getrunken und sogar Drogen genommen, um diesen Schmerz zu vergessen. Leider hat sie dabei auch meinen Vater und mich vergessen. So musste sie schließlich vor genau 6 Jahren, am 21. April 2010 in eine Entzugsklinik. Ich hatte nur noch meinen Vater, der sich um mich kümmern konnte." 

Ein Weinkrampf unterbricht ihn. Mir kommen auch langsam die Tränen. Er erzählt weiter: "Und dann, genau ein Jahr später, am 21. April 2011 musste mein Vater mit der japanischen Armee in den Krieg ziehen. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen." Ein weiter Weinkrampf unterbricht ihn. Ich streichle weiterhin seinen Rücken: "Lass es raus." spreche ich ihm Mut zu. "Und seitdem wohne ich hier. Es ist eine Art betreutes Wohnen für Kinder, die ähnliches durchgemacht haben, wie ich."  Er löst sich langsam von mir und sieht auf den Boden. Ich wische mir mit meinem Ärmel die Tränen weg und krame ein Taschentuch aus meiner Tasche. Ich reiche es Shinji-kun.

Ich überlege, was ich in einer solchen Situation noch machen könnte. Schließlich will ich ja, dass es ihm besser geht. Zumindest für einen kurzen Zeitraum. Seine Geschichte ist wirklich traurig. Ich kann verstehen, warum er in der Schule so schlecht drauf ist. Er versucht damit seine wahren Gefühle zu verstecken. Ich glaube, dass er nicht weiß, wie er das alles verarbeiten kann. Ich frage mal die Frau, die mir seit Montag die Tür öffnet, ob sie weiter weiß, aber erstmal brauche ich frische Luft. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Die laue Aprilluft strömt rein. Ich setze mich wieder vor Shinji-kun, der immer noch auf den Boden starrt. Meine Hand lege ich in seinen Nacken und drücke mit meinem Daumen sein Kinn nach oben, sodass er mich ansieht.

"Shinji-kun. Hör mir bitte zu! Ich verstehe dich, aber hier herumsitzen und heulen wird nichts daran ändern! Klar, dass du Zeit brauchst, um alles zu verarbeiten, aber ich bin keine Therapeutin! Du machst jetzt erstmal folgendes, bevor wir mit den Schulaufgaben anfangen: Du nimmst dir frische Sachen aus dem Schrank und steigst unter die Dusche!" Er nickt. "Ich werde in der Zwischenzeit für etwas Ordnung sorgen! In 15 Minuten bist du wieder hier!" Er nimmt sich frische Sachen und geht aus dem Raum. Ich schnappe mir den Mülleimer und entsorge den gröbsten Müll. Hauptsächlich Taschentücher. Seine Wäsche schmeiße ich auf einen Haufen in eine Ecke. Die soll er sortieren, da ich nicht an seine Unterwäsche ran gehe!

Als er keine 10 Minuten später mit halbnassen Haaren, einer dunkeln Jeans und einem hellgrauen Kapuzenpulli in der Tür erscheint, schaut er mich überrascht an. "Wow, das Zimmer sieht gut aus. Und das nicht mal in 10 Minuten." Er sieht auch schon viel besser aus. "Tja. Wenn ich will, kann ich mein Zimmer auch so schnell auf Vordermann bringen, aber meistens habe ich keine Lust dazu." Ich lache leicht. "So ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Du musst noch deine Wäsche sortieren." Ich zeige auf den Haufen in der Ecke. "Ok. Und was ist die gute Nachricht?" "Frau Haruna hat heute Geburtstag und deswegen haben wir keine Hausaufgaben bekommen!" 

Er sieht mich enttäuscht an. "Je mehr Hausaufgaben wir auf haben, umso länger bleibst du. Aber heute haben wir keine. Das heißt wir gehen kurz den Schultag durch und dann gehst du wieder, richtig?" "So würde ich das jetzt nicht formulieren. Schließlich sind wir Freunde und es ist Wochenende. Wir können doch zusammen abhängen." Seine Augen glänzen. Er nickt und lächelt sogar ein wenig. Es freut mich ihn so zu sehen. Tatsächlich brauchen wir keine 10 Minuten, bis wir fertig sind. "So und jetzt?" Shinji-kun sieht mich erwartungsvoll an. "Hmmmm..." Ich überlege. Mein Blick fällt auf den wolkenlosen Himmel draußen. "Lass uns raus gehen! Frische Luft und etwas Bewegung würden dir sicher gut tun." 

"Wir können auf den Hof hinterm Haus gehen. Ist quasi unser Garten. Oh! Und ich nehme noch die hier mit." Er zieht aus seinem Regal eine Frisbee-scheibe. Ich folge ihm zur Hintertür. Er führt mich zur Grünfläche, die nicht zum Gärtnern benutzt wird. "Früher, als ich noch neu hier war, habe ich mich die meiste Zeit um die Pflanzen gekümmert, wenn ich von der Schule kam." Plötzlich zieht er mich näher zu sich heran. Er flüstert mir in Ohr: "Ach und was ich dir vorhin alles erzählt habe... Du bist wirklich die erste, der ich das anvertraue." Dann zwinkert er mir zu und drückt mir das Frisbee in die Hand. "Du fängst an!" Während wir uns die Scheibe aus Plastik immer wieder hin und her werfen, lachen wir sehr viel. 

Als ich aus Versehen zu doll werfe, muss er bis ans andere Ende rennen, um das Frisbee doch noch zu fangen. Er rollt sich elegant ab und steht wieder auf, als er ins Stolpern gerät. Dann rennt er wieder zu mir, sodass er etwa 3 Meter zwischen uns sind. Wir beide lachen uns über seine Akrobatik von eben halb kaputt. Als er versucht die Scheibe zu mir zu werfen, gleitet diese jedoch nur bis zur Mitte. Wir beide rennen darauf zu und stoßen mit unseren Köpfen zusammen. Lachend fallen wir seitlich ins Gras. Nachdem wir uns halbwegs beruhigt haben, setzen wir uns auf und ich schaue Shinji-kun in die Augen. Er erwidert meinen Blick und seltsamerweise kommen wir uns immer näher. Seine Augen gucken immer wieder auf meine Lippen, was meine Augen ebenfalls tun. Uns trennen nur noch wenige Zentimeter. Küssen wir uns gleich?

Autoren-Kommentar:

Also ich muss wirklich sagen, dass ich geweint habe, als ich dieses Kapitel schrieb. Seine Geschichte ist so dramatisch. Die Mutter weiß nicht, wer er ist und der Vater im Krieg verschollen ohne ein Lebenszeichen. Shinji hat mein volles Mitleid. Ich finde es fast schon etwas scheiße von mir, ihm diese Hintergrundgeschichte zu geben, aber es muss so sein.

PS: Es heißt wirklich das Frisbee. Steht so im Duden. Vorher dachte ich es heißt der Frisbee, aber so kann man sich irren.

Tokyo, mein neues ZuhauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt