Kapitel 8

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Er schließt seine Augen. Er will mich tatsächlich küssen! Ich weiß gar nicht, was ich in dieser Situation machen soll. Er kommt immer näher. Ich werde langsam etwas panisch und kneife meine Augen zusammen. Dann plötzlich höre ich ihn laut ausatmen und spüre seine Stirn an meiner. Ich öffne vorsichtig meine Augen. Er sieht mich an und lächelt. Ich habe plötzlich ein Deja-vù. Ich habe diesen Moment schon einmal erlebt, doch ich kann mich nicht erinnern wann. Aber ich weiß, dass es auch mit Shinji war. Er steht plötzlich auf und zieht mich mit hoch. Er bekommt rote Wangen und umarmt mich.

"Lass uns bitte so tun, als ob das eben nie passiert ist!" Was? Warum verlangt er das? Und warum zittert er so? Was war das gerade? Habe ich einen Korb gekriegt? Oder hat er sich dann doch nicht getraut? Woran liegt es? Mich überkommt das plötzliche Bedürfnis nach Hause zu gehen und mich unter meiner Decke zu verkriechen. "Ok. Wir sehen uns dann am Montag in der Schule!" Ich renne daraufhin nach Hause. Völlig in Gedanken versunken übersehe ich fast Takeru und Sachiko, die küssend vor unserer Haustür stehen. "Sucht euch ein Zimmer!!!" schreie ich sie an und stürme an ihnen vorbei in mein Zimmer. Schnell habe ich die Tür abgeschlossen und lasse mich an dieser zu Boden sinken.

Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Lautlos fange ich an zu weinen. Warum hat er mich nicht einfach geküsst? Ich hätte ihn schon nicht geschlagen oder so. Obwohl ich mir nicht mal sicher bin, ob ich hätte erwidern können. Was fühle ich für Shinji? Ich weiß es nicht. Es klopft an meiner Tür. Ich will aber alleine sein! Warum können die mich nicht einfach in Ruhe lassen? Als es erneut klopft, schreie ich: "Verschwinde! Und lass mich einfach in Ruhe!" Ich krieche zu meinem Bett und drehe mich zur Wand. Damals in der Junior-Highschool wollte mich auch keiner küssen, also liegt es eindeutig an mir. Bin ich den Jungs zu hässlich? Bin ich etwa nicht deren Typ? Was zur Hölle ist es?

Plötzlich höre ich, dass jemand an der Tür herum stochert und der noch in der Tür steckende Schlüssel fällt auf ein Blatt Papier, dass durch den Türschlitz gesteckt wurde. Den Trick kenne ich nur von Takeru. Die Tür wird aufgeschlossen, aber ich verkrieche mich unter meine Decke. Jemand setzt sich auf mein Bett und berührt meine Schulter. "Kazumi, so habe ich dich noch nie gesehen. Was ist denn passiert?" Takeru spricht englisch. Ich schaue ihn nicht an, als er mir die Decke wegnimmt. "Kazu. Komm schon. Du weißt, du kannst mit mir über alles reden! Ist es, weil Sachi-chan und ich uns wieder geküsst haben?" Ich antworte nicht. Ich will alleine sein! Aber ich bringe es nicht über meine Lippen.

Stattdessen setze ich mich auf und klammere mich an meinem Bruder fest. Mein Kopf liegt auf seiner Brust und die ersten Tränen laufen über meine Wangen. "Sachi-chan! Komm mal bitte!" Aus dem Augenwinkel sehe ich sie auf uns zu kommen. In ihrem Gesicht spiegelt sich Entsetzen. Sie setzt sich zu uns aufs Bett und tröstet mich ebenfalls. Ich beruhige mich langsam und schnäuze in ein Taschentuch. Plötzlich wird eine weiße Katze auf meinen Schoß gesetzt. Ich schaue nach oben und erblicke das Gesicht meiner Mutter. Sie lächelt mir aufmunternd zu: "Das ist Artemis. Unser neues Haustier. Er ist ein Kater und oh! Sieh nur, er will dich auch trösten!" 

Artemis stupst mich an und fängt an zu schnurren. Ich streichle sein Fell. Es ist so weich! "Mum, wie alt ist Artemis?" "Schon etwas älter. Wie alt, weiß ich nicht genau, aber auf jeden Fall schon erwachsen." "Ok. Und woher kommt der auf einmal?" "Nun ja. Er war bei meiner Freundin Usagi, die auch eine Katze hat. Sie war heute zu Besuch und hat ihn mir gegeben. Oh und da wäre noch was!" Sie holt eine bunte Karte hervor. "Wir sind zu einem Geburtstag eingeladen. Es ist der 12. von Sakura-chan, die Tochter von meiner Freundin Rei." "Ist das die vom Hikawa-Tempel?" "Ja, genau die!" "Und wann ist die Feier?" "Am 1. Mai, während der goldenen Woche." "Mum, Was war das nochmal genau?" 

"Die goldene Woche ist eine Woche, wo mehrere Feiertage eng zusammenliegen, und deswegen habt ihr die ganze Woche frei!" "Achja! Stimmt. Jetzt erinnere ich mich wieder!" Sachi-chan tippt mir auf die Schulter: "Hast du schon ein Yukata?" "Nein. Leider nicht. Wieso fragst du?" "Bei dieser Feier am Tempel ist es Tradition, dass man im Kimono oder Yukata hingeht! Ich bin jetzt schon das sechste Mal in Folge da!" Sie grinst. Plötzlich springt Artemis auf meine Schulter, um dort in aller Ruhe weiter zu schlafen. Ich lasse einen erschrockenen Laut von mir. "Artemis! Du hast mich erschreckt!" Ich fange an zu lachen. So eine Katze ist ein wirklich guter Trostspender!

"Kazu-chan. Du brauchst unbedingt einen Yukata!" Sachi-chan überlegt. "Am besten wir gehen in die Stadt und schauen, ob wir einen passenden finden!" "Oder..." Mum schaltet sich dazwischen und geht zu meinem Schrank. "Du ziehst einfach den hier an!" Sie holt einen blassgrünen Stoff raus. "Und ich habe darauf geachtet, dass es deine Lieblingsfarbe ist: Grün!" Ich stehe vorsichtig auf, da Artemis noch immer auf meiner Schulter liegt und gehe zu Mum. Ich nehme den Stoff zwischen die Finger. "Wow, es fühlt sich ganz sanft an! Und da sind ja kleine bunte Blüten drauf!" Erst jetzt fallen sie mir auf. "Und wer macht meine Haare? Ich mein, ich kann doch nicht mit einem einfachen Zopf hingehen?!" Ich zeige auf meine Haare.

"Keine Sorge, das übernimmt meine Mutter!" Sachiko ist aufgesprungen. "Ich gehe sie gleich mal fragen!" Sie nimmt Takeru's Hand und zieht ihn mit sich. "Mum? Sind die beiden jetzt offiziell zusammen?" "Ja, das hat mich auch überrascht! Takeru hat sie wohl zufällig auf dem Weg nach Hause getroffen und gefragt. Ich glaube sie möchte ihn jetzt ihrer Mutter vorstellen!" Ich lächle. Auf einmal kommen die Erinnerungen von heute Nachmittag wieder hoch. "Kazu-Schätzchen! Warum guckst du so traurig? Hat das etwa was mit dem jungen Mann zu tun, bei dem du heute warst wegen der Englisch-Nachhilfe?" Sachiko! Sie hat mich nochmal gerettet! 

Soll ich meiner Mutter wirklich von Shinji erzählen? Ich weiß nicht, wie sie darauf reagieren würde. "Nein, nein. Ich habe nur etwas Heimweh und vermisse Luke!" lüge ich sie an. Auch wenn mir dieser scheinheilige Verräter gestohlen bleiben kann, ist er immer für eine Ausrede gut! "Ach, Schätzchen. Dann bleibt Artemis bei dir. Weißt du, eigentlich ist er ja meine Katze, aber du brauchst ihn mehr als ich." "Danke Mum!" Sie legt noch den Yukata zurück in den Schrank, bevor sie mein Zimmer verlässt. Aus einigen Kissen und einer kleinen Decke baue ich schnell ein Bett für Artemis und lege ihn dort rein. 

Als ich nachts plötzlich aufwache, liegt Artemis neben meinem Kopf und sieht mich mit seinen blauen Augen an. Plötzlich leuchtet ein gelber Halbmond auf seiner Stirn auf und wird immer heller. ich kneife die Augen zusammen. Als ich sie weider öffne, befinde ich mich an einem mir unbekannten und doch sehr vertrauten Ort...

Tokyo, mein neues ZuhauseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt