Kapitel 6

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"Willst du wirklich, dass ich nicht mitkomme?" "Danke, aber ich bin mir sicher. Ich schaffe das schon." "Nagut. Dann bis morgen Kazu-chan!" Sachi-chan umarmt mich zum Abschied. "Bis morgen." Ich gehe in Richtung von Shinji. Sachiko hat mir vorhin noch erklärt, wie ich zu ihm komme. Ich laufe die Straße rauf und runter, aber finde nicht die richtige Hausnummer. Schließlich frage ich einen Passanten: "Entschuldigung! Ich suche die Hausnummer 256. Wissen Sie, wo die ist?" "Da hinten am äußersten Ende auf der rechten Seite. Das graue Eckhaus." "Danke." Ich schaue auf die Uhr. Es ist schon fast halb 6. Ich schreibe meiner Mutter schnell, dass ich bei Sachiko bin und Sachiko, dass sie mich decken soll, falls meine Mutter sie fragen sollte, wo ich bin. Beide schreiben ein Ok zurück.

Ich klingel. Eine Frau macht die Tür auf. "Hallo. Ich bin Araki-san. Ich möchte zu Shinji-kun." "Ah. Hallo! Komm doch rein. Ich bringe dich zu seinem Zimmer." Sie hat einen undefinierbaren Akzent. Ich werde zu seinem Zimmer geführt und die Frau klopft an: "Shinji-san. Besuch für dich. Es ist Araki-san." "Die Tür ist offen!" "Du kannst einfach reingehen." sagt sie noch zu mir, bevor sie wieder verschwindet. Einmal tief ein- und ausatmen und dann gehe ich rein. Das Zimmer ist sehr dunkel. Ich sehe meine Hand vor den Augen fast nicht mehr. "Shinji-kun? Warum ist es hier so dunkel?" "Damit du mich nicht siehst..." kommt es leise aus einer unbestimmten Richtung. "Aber wie können wir dann die Hausaufgaben durchgehen? Ich kann mir vorstellen, dass du bei Englisch auf jeden Fall meine Hilfe brauchst."

Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Ich nehme einige Möbel wahr und auch die Fenster. Vorsichtig bahne ich mir einen Weg dort hin. "Shinji-kun. Ich werde jetzt die Jalousien hoch machen!" Augenblicklich ist es hell. Ich blicke mich in seinem Zimmer um. Mein Blick fällt als erstes auf die Unordnung, die ich aber sofort ignoriere, als ich Shinji-kun sehe. Er liegt versteckt unter einer Decke auf seinem Bett. Nur sein dunkelblonder Haarschopf lugt hervor. "Shinji-kun. Ich weiß, dass du dich vor mir versteckst. Das brauchst du nicht! Ich beiße dich schon nicht!" Sein Kopf dreht sich, sodass er mich ansieht. Der Anblick schockiert mich. Seine Augen sind rot und verquollen, als hätte er geweint. Und er hat tiefe, dunkle Augenringe.

Ich räuspere mich, versuche sein Aussehen zu ignorieren. "Setzt du dich zu mir an den Tisch? Dann können wir besser arbeiten! Oh. Und mach bitte das Fenster auf." Er steht wortlos auf. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und eine dunkelgraue Jogginghose. Er öffnet das Fenster. "Aber nur weil du bitte gesagt hast." murmelt er. Dann setzt er sich zu mir und holt sich Zettel und Papier aus der Tasche. "Nicht nötig. Ich habe dir meine Notizen kopiert!" sage ich stolz und reiche ihm die Zettel rüber. "Danke." sagt er knapp. Ich gehe mit ihm die Hausaufgaben durch und er macht sich tatsächlich eigene Notizen.

Als wir nach einer Stunde fertig sind, packe ich meine Sachen und will aufstehen, aber Shinji-kun hält mich plötzlich fest. "Danke, dass du dir die Zeit für mich genommen hast. Darf ich dich bitte umarmen?" Er sieht mir direkt in die Augen. Ich lächle. "Aber nur, weil du bitte gesagt hast!" Er lacht. Es ist das erste Mal, dass ich ihn lachen höre. Er zieht mich in eine Umarmung. ich erwidere lachend. Sein Duft steigt mir in die Nase. Ich löse mich von ihm. "Jetzt muss ich nach Hause, sonst bekomme ich noch Ärger." "Ok. Morgen bist du ja wieder da." "Ja. Stimmt. Bis morgen dann!" Ich winke, bevor ich aus der Tür gehe. 

Zuhause angekommen ist es halb 8. Es wird gleich essen geben, da es bereits herrlich duftet. Ich ziehe mich schnell um und bin rechtzeitig im Esszimmer. Während des Essens schweige ich und verwinde sofort in meinem Zimmer, nachdem ich fertig bin. Ich ziehe mir meinen Pyjama an und telefoniere noch kurz mit Sachi-chan: "Hi, Sach-chan!" "Hi. Na, wie war es mit Shinji-kun?" "Ach. War glaube ich ganz in Ordnung. Wir sind die Hausaufgaben durchgegangen und dann bin ich nach Hause." "Hat er noch irgentwas gesagt?" "Er hat sich bei mir bedankt, aber mehr nicht." Die Umarmung und die Tatsache, dass er gelacht hat, lasse ich weg. "Wow, wie langweilig. Aber ging es ihm besser?" "Etwas. Er war nicht mehr so blass wie heute Morgen." 

Sein wahres Befinden behalte ich lieber für mich, aber warum ich das tue, ist mir ein Rätsel. "Ach ja. Da fällt mir ein, dass Yukio-kun mir gesagt hat, dass ich dir sagen soll, dass er uns ab morgen jeden Tag zur Schule abholt." Ich stöhne in Gedanken genervt auf. Muss das sein? "Ok. Aber warum macht er das?" Sachi-chan kichert verdächtig. "Er ist eifersüchtig." Eifersüchtig? Auf Wen? "Auf wen denn? Etwa auf meinen Bruder, weil er mit dir rumgeknutscht hat? Ich habe doch gesehen, wie er dich immer ansieht in den Pausen." Sachi-chan sagt nach einer etwas längeren Pause: "Ok. belassen wir es einfach dabei. Wir sehen uns morgen!" Sie legt auf, bevor ich ihr antworten konnte.

Was meinte sie damit, er ist eifersüchtig? Auf wen? Und warum? Kann es nicht auch sein, dass er auf mich eifersüchtig ist? Nein, dass kann nicht sein. Er schaut doch immer zu Sachiko und nicht zu mir. Außerdem ist er mich nur ein Freund. Und noch immer bin ich verwirrt wegen Sachiko und Takeru's Kuss. Selbst Shinji-kun kann es sich nicht vorstellen, obwohl Sachi-chan wohl auf große Männer steht. Ich frage mich, wie das zwischen den Beiden wohl ausgehen wird, sobald sie sich wiedersehen. Ob sie sich ineinander verlieben werden? Ob sie mal ein Paar werden? Dann wäre Sachiko ja sowas wie meine Schwägerin, wenn die Beiden heiraten würden. Ich kichere und stelle mir die Hochzeit vor. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

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Die Woche vergeht schnell und ich bringe jeden Tag Shinji-kun die Hausaufgaben. Mit Yukio-kun, der uns seit Dienstag jeden Morgen zur Schule begleitet, komme ich inzwischen klar. Am Freitag jedoch bekommen wir von Frau Haruna eine Überraschung anlässlich ihres 30. Geburtstag. Wir bekommen keine Hausaufgaben. Unsere Klasse jubelt und mit der Schulglocke packen alle ihre Sachen. Ich verabschiede mich von meinen Freunden und gehe gut gelaunt zu Shinji-kun. Ich öffne die Tür zu seinem Zimmer, aber was ich dort sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.

Autoren-Kommentar:

Übrigens könnt ihr euch Shinji von Aussehen her wie Kiri aus dem Manga "Crash" vorstellen. Aber nur vom Aussehen her, sprich Gesicht, Haare und Körperbau ungefähr. 

Das war's von mir. Bleibt gespannt, wie es weitergeht! ;)


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