24. Kapitel - JAMIE

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Kaputt und erschöpft kam ich endlich von einem langen Arbeitstag nachhause. Müsste ich noch einen Centimeter gehen, würde ich wahrscheinlich umkippen.
Vormittags ist eine alte Autobahnbrücke nahe Downtown aufgrund eines Erdbebens mittlerer Stärke eingestürzt und hat mehrere Autos unter sich begraben. Das hieß, dass wir den ganzen Tag mit Bergungen und teils gefährlichen Rettungsmanövern verbracht hatten. Fast alle konnten gerettet werden, aber wie es immer ist gibt es auch die weniger Glücklichen, die leider ihr Leben lassen mussten. Sowas zieht mich immer sehr runter, aber andererseits darf man die Menschen, die ohne unsere Hilfe auch gestorben wären nicht vergessen. Und das ist doch der Grund wieso ich das ganze überhaupt mache, um anderen zu helfen.

Eine andere Sache hatte mir auch den ganzen Tag keine Ruhe gelassen und beschäftigt mich immer noch sehr. Am liebsten würde ich das für heute vergessen und mich einfach duschen und umziehen, aber ich ließ mich stattdessen mit meinem Gesicht voraus aufs Sofa fallen. Hätte in diesem Augenblick nicht mein Handy geklingelt, wäre ich vermutlich sofort eingepennt.
Auf dem Bildschirm stand, dass ich bereits 3 Anrufe und 5 Nachrichten von meiner Mutter verpasst hatte. Typisch. Erneut leuchtete der Bildschirm auf und "Mom" war darauf zu lesen.
Ich drückte den grünen Button und nahm den Anruf an.

"Hi Mom." Sagte ich, während ich mir müde über die Augen wischte.

"Oh Schatz hab ich dich geweckt? Das tut mir leid, aber du meldest dich ja so selten. Ich mache mir schon Sorgen." Erklärte sie ihren Anruf.

"Mir gehts gut. Ich komm grade von der Arbeit. Was gibt es denn so Dringendes?" Gähnte ich schon fast.

"Ich weiß, dass wir nerven, aber die Hochzeit deiner Schwester ist in knapp 4 Wochen und du hast immer noch nicht geantwortet, ob du mit jemanden kommst. Joy hatte mir gesagt, dass du jemanden kennengelernt hast. Bringst du sie mit?"

"Halt. Stopp. Warte. Was hat sie gesagt!?"
Ich hatte mich doch eben verhört oder etwa nicht?

"Na, deine neue Nachbarin. Ich hab gehört sie ist sehr süß." Ich stöhnte genervt ins Telefon. Ich wollte sie nicht anblaffen, aber jetzt ging diese Diskussion schon wieder los.

"Nein, Mom. Da läuft nichts. Sie ist sehr nett, aber da läuft nichts. Und du kennst doch deine liebe Tochter. Sie redet viel, wenn der Tag lang ist." Versuchte ich mich irgendwie rauszureden.

"Honey..." Ich verstehe immer noch nicht warum sie so viele Kosenamen für mich hat.
"... ich werde auch nicht jünger und ich will nur die Gewissheit haben, dass du endlich mit jemandem glücklich wirst."

"Es ist bloß kompliziert." Antwortete ich knapp.

"Also gibt es da doch jemanden?" Leichte Freude und Aufregung konnte ich in ihrer Stimme hören.

"Nein, da ist niemand. Wirklich." Als ich das sagte zog sich mein Bauch merkwürdigerweise zusammen. Naja, ich wusste schon wieso er das tat. Es waren die Gedanken, die mich schon den ganzen Tag beschäftigten. Seit gestern ließen mich drei kleine Wörter nicht mehr los:
Ich und Alex. Alex und Ich.
Ich hatte noch nie in meinem Leben daran gezweifelt, dass wir Freunde, beste Freunde sind. Auch jetzt wo mir mein Interesse an Männer immer offensichtlicher geworden ist, habe ich auch nie daran gezweifelt. Auch nicht mal als Alex mir erzählt hatte, dass er schwul ist.
Nie.
Aber seit ich Hanna die Lüge aufgetischt habe und Alex sogar geküsst habe, lässt es mich nicht mehr los. Ich habe ihn verdammt nochmal geküsst. Ein einfaches 'hey babe' oder eine Umarmung hätte für die Scharade vollkommen ausgereicht, aber nein. Ich habe ihn geküsst und ich verstehe es einfach nicht.
Was ich noch weniger verstehe ist, dass es mir gefallen hat. Es überrascht mich nicht aufgrund Dessen, weil er ein Mann ist, sondern eben weil es Alex, mein bester Freund ist.

Es gibt ein ich und Alex als Freunde, aber könnte es auch mehr als das sein? Mich machen diese Zweifel fertig. Noch nie hatte ich diese Möglichkeit in Betracht gezogen, aber nun war es anders.
Vielleicht ist es ja nur meine Neugierde, weil ich den Teil von mir so lange nicht wahrgenommen habe.
Aber was wenn nicht?
Was wenn es Alex ist?
Was wenn ich mehr für ihn empfinde als Freundschaft?
Was wenn?

"Na gut, aber lass mich dir eins sagen. Liebe ist kompliziert. Sie ist nicht einfach und ergibt auch nicht immer Sinn. Das muss es auch garnicht, solange du glücklich bist. Schatz, vertrau mir, wenn ich dir sage genieß dein Leben, denk nicht zu viel darüber nach und lass es einfach zu." Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese Worte nicht direkt was mit mir zu tun hatten.

"Okay..." Jetzt war ich etwas paranoid geworden. "Irgendwas ist doch nicht richtig hier. Mom was ist passiert?"

"Nichts, es ist alles in bester Ordnung." Wollte sie mir weiß machen, aber das kaufte ich ihr nicht ab.

"Mom?!" Ich erkannte einen leicht drohenden Ton in meiner Stimme.

"Sweety, ich wollte dir das eigentlich nicht übers Telefon sagen, sondern erst wenn du nächste Woche zu Besuch kommst. Dein Vater..." Sagte sie mit zitternder Stimme.

"Mom, was ist los?" Ich wurde langsam panisch und meine Müdigkeit war wie weggeblasen.

"Dein Vater... er... der Krebs ist wieder da. Er hat noch nicht gestreut, aber wir müssen jetzt schnell Handel, bevor... bevor es wieder schlimmer wird."

"Seit wann... Seit wann wisst ihr es schon? Sag es mir, seit wann?" Ich schrie sie an. Ich wollte nicht laut werden, aber ich konnte nicht anders. Nicht in dieser Situation.

"Jamie..." Versuchte sie mich zu beruhigen

"Bitte sag es mir einfach!" Drängte ich sie.

"Seit drei Wochen." Gab sie leise zu.

"Mom, was zum... Du rufst mich pausenlos wegen dieser scheiß Hochzeit an, aber... oh warte, heißt das, dass die Hochzeit schon so früh stattfindet falls er dann nicht mehr lebt oder was? Warte... weiß Joy etwa schon Bescheid!? Wusste sie es schon als sie mich besucht hat?"

"Schatz, wir lieben dich, aber..." Ich ließ sie nicht ausreden oder versuchen etwas zu erklären. Ich war so wütend, dass sie mich verdammte drei Wochen im Dunklen gelassen hatten.

"Aber was? Nur weil ich mein Leben nicht so geordnet habe wie Mrs.Perfect, traust du mir nicht zu, dass ich damit umgehen kann?" Ich würde meine Worte später bereuen, aber ich konnte mich in meiner Wut nicht zurückhalten.

"Jamie. So ist das nicht, bitte hör mir zu..."

"Wieso, wieso hast du es mir nicht gesagt?" Nun begannen meine Augen zu tränen und ich wurde wieder leiser.

"Dein Vater wollte nicht, dass du es übers Telefon erfährst. Er wollte es dir sagen, wenn du hier bist. Er liebt dich über alles. Bitte Jamie versteh doch." Sie klang traurig.

"Ich kann es nicht verstehen. Wie konntest du, wie konntet ihr es nur verschweigen?" Wut und Traurigkeit vermischten sich in mir.
Es war mir alles zu viel: Der anstrengende Arbeitstag, meine Zweifel an der Freundschaft zu Alex und jetzt auch noch mein Vater.

"Es tut mir leid." Hörte ich meine Mutter noch leise von der anderen Seite flüstern.

Finding Happiness (menxmen) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt