Kapitel 5

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Henry

Ich liebe dich!
Diese schlichten drei Worte haben mich innerlich am meisten berührt und aufgewühlt. Meine träge, kleine Welt kommt durcheinander und ich schwinge hin und her zwischen meinem Körper und dem Jenseits. Von irgendwoher hole ich etwas Kraft und bin auf einmal wieder Herr meines Selbst.

Ich bin wieder in meinem Körper!

Ich kann noch immer ihre Berührung spüren, meine Lippen sehnen sich nach den ihren und alles in mir schreit ihren Namen.
Tori.Sie war da. Sie war wirklich da und hat mit mir geredet.

Auch wenn ich nicht alles erfassen konnte, so habe ich trotzdem das wichtigste verstanden:

Sie liebt mich.Und sie gibt sich die Schuld an allem. Doch das soll sie nicht. Ich will, dass sie glücklich ist!

Es macht mich wütend, dass ich ihr das nicht selbst sagen kann.Der Unfall war allein meine schuld, dafür kann niemand etwas. Zu gern würde ich meine Finger um ihre legen, damit sie sich getröstet fühlt, aber ich schaffe es nicht. Ich höre Tori weinen und es zerreißt mein Innerstes.
Sie darf nicht weinen!
Ich will für sie da sein – so wie früher. Aber ich bin nicht mehr ich selbst und werde es nie wieder sein. Ich bin zu schwach, um sie zu stützen.
Abrupt endet ihre Berührung, die Wärme verschwindet und die Kälte kehrt zurück. Ich werde wieder von meiner Kraft verlassen, doch bevor sie restlos verschwindet, bewege ich mit aller Anstrengung meine Finger, um Tori festzuhalten. Aber ich bekomme sie nicht zu fassen. Sie ist fort und ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden.
Ob wir uns wiedersehen werden.
Denn ihr Besuch hat zwar meine Kräfte mobilisiert, doch nun bin ich noch schwächer, als sie mich verlässt.Deshalb bekomme ich nur am Rande mit, dass die Ärzte wieder da sind. Ich höre ihre Stimmen in weiter Entfernung, aber unter ihnen ist mein Vater, das höre ich deutlich heraus.
Ich reiße mich zusammen, um mich konzentrieren zu können.Eine warme Hand umfasst meine, wo vorher noch Toris Hände waren. Es ist nicht dasselbe,aber ich genieße diese seltene Berührung trotzdem. Mein Vater hat mich sonst nie berührt.
„Henry", sagt er leise meinen Namen. Ich höre wieder Toris unsicheres Flüstern.
Sie war da!Das ist alles, woran ich denken kann – und will.
„Sein Zustand schein unverändert zu sein", meint die sachliche Stimme der Ärztin. „Ich sehe mir schnell das EKG an."Es ist einen Moment still im Zimmer. Alle scheinen gespannt zu warten.
„Komisch", sagt sie schließlich und mein Vater lässt sogleich meine Hand los. Er will sich das Ergebnis bestimmt selbst ansehen.
„In der letzten Stunde scheint er Herzrhythmusstörungen gehabt zu haben. Das müssen wir beobachten."Mein Herz ist vor Freude gehüpft, als Tori bei mir war. Doch das können die Ärzte nicht wissen. Was, wenn sie auf eine unheilbare Krankheit schließen?
„Das klingt aus Ihrem Mund nicht besonders gut", meint mein Vater.
„Ich mache mir nur Sorgen. Herzversagen ist eine der häufigsten Todesursachen bei Komapatienten", antwortet sie daraufhin. „Wir werden ihm Medikamente geben und es weiter beobachten."
Ich will nicht noch mehr Medizin! Mir geht es gut. Ich ärgere mich, dass ich ihnen nicht die Wahrheit sagen kann. Sie dürfen mir nicht noch mehr von diesem Zeug geben.
„Ich habe noch eine Frage", rückt mein Vater heraus und ich kann mir vorstellen, worum es geht. Um diese Zettel, die mein Leben beenden können.
„Ja?", fragt die Ärztin.Ich höre meinen Vater seufzen und ihn schließlich die Frage stellen, die ihm auf der Seele brennt.
„Wie schätzen Sie seine Chancen ein, jemals wieder aufzuwachen?"Einen Moment zögert die Ärztin, bevor sie antwortet. Ich kann ihren Blick auf mir spüren und nehme die Spannung deutlich wahr.
„Die Chancen stehen mehr als gering. Dadurch, dass der Unfall solch schwerwiegende Folgen hatte, glauben wir, dass Henry nicht mehr aufwacht. Das ist die Einschätzung aller Experten,die sich mit Ihrem Sohn befasst haben. Es tut mir Leid", teilt sie Vater sachlich mit. Wie lange dauert es, bis man als Arzt solche Nachrichten mit ruhiger Stimme überbringen kann?Ich würde sie am liebsten packen und sie das durchmachen lassen, was ich durchmache. Mein Vater weiß nicht, dass ich ihn höre und verstehe. Er glaubt, ich bin schon über alle Berge.Und das ist sein Fehler.

Story of my Life - verzweifelte HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt