Kapitel 23

295 17 2
                                    

Grün. Nichts als Grün. Wo bin ich? Ich müsste doch tot sein. Ungläubig drehe ich mich einmal im Kreis, nur um festzustellen, dass ich auf einer riesigen Wiese stehe. Gelbe Blüten stechen zwischen dem Grün hervor und schleichen sich in mein Blickfeld. Lachend lasse ich mich nachhinten in die Blumen fallen. Ein Traum. Das ist ein Traum. Mit den Fingern streiche ich über das saftige Gras und pflücke eine der Blumen. Gedankenverloren drehe ich sie zwischen den Fingern und halte sie schließlich an meine Nase. Der wundervolle Duft setzt sich in meiner Nase fest und veranlasst mich zum träumen.

Meine Eltern, wie lange habe ich schon nicht mehr an sie gedacht? Seit dem das ganze mit der Unterwelt begann, gab es keine Sekunde Zeit in der ich darüber hätte nachdenken können. Doch nun, hier Gefangen zwischen Zeit und Raum, bleibt mir alle Zeit der Welt. Durch meine neue Familie, hätte ich sie beinahe vergessen, doch nun kommt die Trauer so stark auf mich zurück, wie schon lange nicht mehr. Nicht nur sie habe ich verloren, sondern auch meine Adoptievfamilie. Ich werde sie nie wieder sehen. Nie wieder Lucys schönes Lachen hören, Lindas gutmütige Worte oder Victors kalte Art spüren. Und vor allem werde ich ihn nie wieder sehen. Den Jungen, der mir gezeigt hat, was das Wort 'Liebe' bedeutet. Jedoch werden die Erinnerungen an sie nie verblassen, genauso wie die meiner Eltern. Nur all zu gut kann ich mich noch an die Zeit mit ihnen erinnern. Lustige Campingausflüge und chaotische Singübungen, wobei mich mein Vater immer unterstützt hatte, obwohl ich keinen Ton traf. Ich hätte mir keine bessere Kindheit vorstellen können, bis zum Tag des Unfalls. Sie haben mir immer zur Seite gestanden und mich wieder aufgebaut, wenn es mir schlecht ging. Doch nun bin ich alleine. Alleine in einer Welt zwischen Leben und Tot gefangen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die kleine gelbe Blume in meiner Hand zerquetscht halte. Schnell lockere ich meinen Griff und die zerdrückte Blüte liegt schlaff in meiner Hand. Langsam lasse ich sie in das Gras vor mir fallen. Und mit ihr meine Trauer. Mein Leben zieht noch einmal an mir vorbei und ich löse die Erinnerungen aus meinem Geist. All die guten wie auch schlechten Eindrücke, all die Erlebnisse. Ich lasse alle los, die mich auf meinem Weg begleitet haben und denen ich lebwohl sagen musste, meine Eltern, Lukas und Lucy, Linda und Victor. Ich befreie alle ihre Gedanken von mir und zurück bleibt eine endlose Leere.

Ich schaue wieder auf. Das Grün erstreckt sich immer noch scheinbar unendlich um mich herum. Doch nicht ganz, dort vorne sieht es so aus, als würde das Gras enden. Ganz am Horizont geht die Wiese in ein glänzendes weißes Licht über. Ich stemme mich auf die Füße und beginne zu laufen. Immer schneller tragen mich meine nackten Füße über das Grün unter mir. Das Ende jedoch scheint einfach nicht näher kommen zu wollen. Je schneller ich renne, desto weiter entfernt sich der strahlenden Horizont von mir. Es ist so, als wäre ich in einem Raum zwischen Wirklichkeit und Fantasie gefangen.

Erschöpft lasse ich mich in das Gras fallen und streiche mir meine Haare aus dem Gesicht. Was mache ich hier eigentlich? Das hat doch alles keinen Sinn. Ich versuche davon zu laufen, vor meinem eigenen Leben. Aber ich lebe doch eigentlich garnicht mehr. Und was ist dann das hier alles? Spielt sich das Alles nur in meinem Kopf ab? Tausend Fragen auf die es wohl nie eine Antwort geben wird. Aber wenn ich schon hier in dieser unwirklichen Welt festsitze, sollte ich nicht davon laufen. Hier kann mir Nichts mehr etwas anhaben. Ich bin frei. Frei von all meinen Verpflichtungen als Hüterin und brauche mir keine Gedanken mehr über den Schutz der Menschheit zu machen. Es ist vorbei. Oder etwa nicht? Wenn das Tor doch jetzt verschlossen ist, kann Magnus nichts mehr ausrichten. Aber was ist wenn er eine andere Möglichkeit findet, um die Menschen zu bedrohen? Ist das schon das Ende? Ich werde die Wahrheit nie erfahren, denn meine Seele verweilt schon lange nicht mehr auf der Erde. Wo ich mich befinde, weiß ich nicht. Vielleicht in einem Übergang vom Leben in den Tot. Niemand weiß, was nach dem Tot kommt, also ist im Prinzip alles Möglich. Nagut an sowas, wie Auferstehung wage ich noch zu zweifeln, aber die Wiedergeburt scheint mir noch nicht einmal so abwägig zu sein. Meine Gedanken beginnen mal wieder in andere Ebenen meines Geistes abzudriften und ziehen mich für eine Weile aus der Realität hinein in meinen eigenen Traum.

Dark SecretsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt