1.Kapitel

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"Oh, was für ein wunderschönes Haus!"

"Ja, Darling."

"Und sieh nur... die hübschen Pferde Mummy!"

"Ja... die sind auch toll."

"Können wir sie reiten?"

"Nein, Süße."

"Wieso nicht?"

"Weil sie uns nicht gehören."

Jule drückte die Hand ihrer kleinen Tochter und genoss die davon ausgehende Wärme. Sie saßen im Taxi von Mick Malone, der sie auch vom Flughafen abgeholt hatte und fuhren zum Dorf indem Jule aufgewachsen war. Draußen vorm Fenster zogen sich rasch die sonst so grünen, jetzt aber schneebedeckten Koppeln vorbei - alle Teil eines riesigen Landsitzes.

Hinter den Koppeln erspähte Jule nun die Dächer eines Herrenhauses im georgianischen Stil. Die lange, gewundene Auffahrt wurde von zwei massiven Steinsäulen begrenzt, die ihrerseits ein riesiges schmiedeeisernes Tor flankierten. Dessen vergoldete Endstücke glänzten im Zwielicht des kalten Januarnachmittags mit den Raureif immergrünen Hecken um die Wette. Zweifellos musste dieser Anblick einem kleinen Mädchen, das in einem engen Reihenhaus im betriebsamen Süden Londons aufwuchs, geradezu märchenhaft vorkommen. besonders als jetzt auch noch die Wintersonne mit ihrem sanften Orange die Landschaft warm erglühen ließ.

"Wem gehören die Pferde denn?", fragte die Kleine und lehnte sich über den Schoß ihrer Mutter, um besser sehen zu können. Dabei waren ihre sanften, moosgrünen Augen teils enttäuscht, teils hoffnungsvoll gerichtet. Vielleicht versprach ihre Mummy ihr ja doch noch einen Ritt.

"Sie gehören der Familie Cunningham.", antwortete Jule und ihr Blick begegnete dem des rotgesichtigen Fahrers, der bei dem Nachnamen interessiert in den Rückspiegel gesehen hatte. Unwillkürlich überlief es Jule heiß und sie rutschte ein wenig verlegen auf ihrem Sitz hin und her.

"Bestimmt sind es sehr nette Leute", plapperte das kleine Mädchen weiter "wenn sie so hübsche Pferde haben. Vielleicht, wenn wir sie ganz lieb bitten, lassen sie uns darauf reiten. Was denkst du Mummy?"

"Ich denke, dass du im Augenblick zu viele Fragen stellst Emma.", antwortete Jule durchaus liebevoll. Ob die Cunnimghams "nette" Leute waren, wollte sie jetzt lieber nicht ergründen... auch wenn allein der Klang dieses Namens genügte, um ihr ein Gefühl zu vermitteln, als flögen Schmetterlinge in ihrem Bauch. Und das, obwohl sie eigentlich nach Hause zurückkehrte, um an der Beerdigung ihres Vaters teilzunehmen.

"Kinder können einen verrückt machen", stellte Mick Malone jetzt fest, "aber man Möchte nie mehr ohne sie sein." Diesmal suchte er regelrecht Jules Blick im Rückspiegel. "Bestimmt ist dir die Kleine jetzt auch ein großer Trost, nachdem du beide Eltern - Gott hab sie selig! - verloren hast."

"Ja, das ist sie.", murmelte Jule und wünschte der Mann, der ein alter Freund ihres Vaters war, würde jetzt nicht versuchen, sie in ein Gespräch zu verwickeln, bis sie zu Hause im Cottage ankamen. Sie war viel zu betrübt, um sich zu unterhalten und auf höflichen und gut gemeinten Nettigkeiten zu antworten. Jetzt waren tatsächlich ihre beiden Eltern tot... eigentlich unvorstellbar.

Jule wandte den Blick ab und fuhr ihrem Kind nachdenklich durchs weizenblonde Haar. Dabei wünschte sie sehnlichst, sie möge die Stärke haben mit all dem klarzukommen, was ihr in den nächsten Tagen bevorstand. Denn ihr setzte nicht nur die Trauer um ihren Vater zu. Da gab es noch etwas anderes, womit sie sich wohl oder übel auseinandersetzen müsste. Seit viereinhalb Jahren lastete ihr dieses Problem nun auf der Seele und versetzte ihr tagtäglich einen kleinen Stich ins Herz.

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