6. Kapitel

915 43 2
                                    

Während Jule ihn so eingehend betrachtete, tat Nathan das gleiche mit ihr. Sie hielt den Atem an, als sie ganz erstaunt und mit weichem Knien feststellte, wie sehr das Verlangen aus seinem Blick sprach.

"Wir sollten dieses Gespräch besser hinter uns bringen.", hörte sie sich sagen, doch ihre Stimme verriet wie aufgewühlt sie wirklich war. Dabei versuchte Jule immer noch sich die weizenblonden Strähnen aus dem eiskalten Gesicht zu halten.

Genau in diesem Augenblick begriff sie, wie furchtbar sie Nathan wirklich vermisst hatte. Als wäre er ein Teil ihrer Seele - ihre zweite Hälfte, nach der sie sich immer gesehnt und dessen Abwesenheit eine schmerzhafte Wunde aufgerissen hatte, die niemals verheilt war. Allein Emma gab ihrem Leben Sinn.

"Warum?", murmelte er nun mit tiefer Stimme und betrübten Blick. Und dann, ehe Jule noch darauf antworten konnte, wiederholte er die Frage, schrie sie geradezu heraus. Auch sein Gesichtsausdruck passte zu diesem verbalen Kraftakt. Dabei hämmerte Nathans Herz stärker als ein Amboss, während er in Jules vor Schreck bleichem Gesicht nach einer Antwort suchte.

Hatte sie überhaupt den Hauch einer Vorstellung davon, wie es ihm ergangne war? Das er gelitten hatte wie ein Hund, nachdem sie ihn in die wüste geschickt hatte? Wusste sie, wie es sich anfühlte, wenn man danach den Eindruck hat, als wäre jeder Tag so lang wie ein Jahrhundert? Ohne Liebe, ohne Wärme. Frühling, Sommer, Herbst und Winter - alle waren sie zu einer einzigen, niemals endenden Jahreszeit der Dunkelheit und der Schwermut verschmolzen.

Nur seine Arbeit bot ihm ein wenig Ablenkung. Seine Schriftstellerkarriere hatte regelrecht Fahrt aufgenommen, nachdem Jule ihn verlassen hatte. Diese bedingungslose Hingabe an seinem Beruf war für Nathan geradezu überlebenswichtig geworden und nahm einen Großteil seiner Zeit in Anspruch. Aber davon abgesehen, vergingen die Tage für ihn schleppend und er fühlte sich wie innerlich abgestorben.

Nathan hatte fähige Mitarbeiter, die ihm halfen das Anwesen der Cunninghams zu führen. Da war es nicht allzu schwer, seine selbst gewählte Karriere als Autor weiterzufolgen. Auch wenn seine Familie nach wie vor die Meinung vertrat, dass es ausreichte, sich um das Anwesen zu kümmern...

Während er jetzt aus nächster Nähe Jules saphirblaue Augen und ihre Lippen zu betrachtete, begriff er, dass es ihm trotz aller Begeisterung ihm schwerfallen würde ihr zu verzeihen. Egal, aus welchem Grund sie ihr plötzliches Verschwinden angab, er würde ihn nicht akzeptieren. Keinen einzigen.

Eingeschlossen den, dass ihr Vater mit allen Mitteln versucht hatte, sie davon zu überzeugen, ihre Beziehung zu dem jungen Cunningham abzubrechen. Auch das die Leute über sie geredet hatten, ließ er nicht gelten, genauso wie die Feindseligkeit seiner Familie angesichts ihrer Beziehung. Jules Gefühle für ihn waren wohl einfach nicht groß genug gewesen, um sie zum bleiben zu bewegen.

Aber Nathan wusste, dass auch er seine Fehler hatte und es nicht leicht war, ihn zu lieben und mit ihm zu leben. Er war oft schweigsam und deprimiert und seit seine Exfrau ihn so üble Weise hintergangen hatte, war er noch schlimmer geworden. Als er bald darauf Jule traf, schöpfte er neue Hoffnung und glaubte mit ihrer Zärtlichkeit könnte sie ihn eines Tages wieder dazu bringen, Vertrauen zu haben. Doch so war es nicht...

Auf der Suche nach innerem Frieden renovierte Nathan danach ein altes Cottage in den Bergen. Auch wenn es ihm dabei nicht gelang, Jule zu vergessen, machte er es zu seinem Rückzugsort fürs schreiben. Mit der Zeit zog er sich immer öfter dorthin zurück, denn manchmal empfand er es als extrem schwierig mit anderen Menschen zusammen zu sein.

"Es.. es ist nicht so einfach, meine Beweggründe zu erklären.", begann Jule nun zögerlich, auf seine Frage zu antworten. Nach wie vor zerrte der Wind an ihrem hübschen Haar und Nathan hätte am liebsten eine der seidigen Strähnen ergriffen und sein Gesicht darin verborgen.

Zurück nach IrlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt